Am 12. Mai ist der „Internationale Tag der Pflegenden“. Im Interview mit dem Politikjournal Rundblick äußern sich Hans-Joachim Lenke, Vorstandssprecher der Diakonie in Niedersachsen, und Dr. Gerhard Tepe, Direktor des Caritas-Landesverbandes für Oldenburg, zur aktuellen Situation der Pflege. Sie nehmen auch Stellung zu der Frage, wie die absehbaren Neuregelungen beim „assistierten Suizid“ in den kirchlich betriebenen Heimen angewandt werden.

Gerhard Tepe (links) und Hans-Joachim Lenke berichten zum Internationalen Tag der Pflege über die aktuelle Situation der Pflege in Niedersachsen. | Foto: Link

Rundblick: Herr Lenke, Herr Tepe, wir reden von Fachkräftemangel und Stress in den Pflegeberufen, von zu wenig Zeit der Zuwendung und mangelnder Attraktivität des Berufs. Sehen Sie schon Fortschritte in den politischen Entscheidungen dazu?

Tepe: Die Versuchung ist groß, hier einfach ja oder nein zu sagen. Viele Themen sind allerdings so komplex. Nehmen wir den Mangel an Pflegekräften. Da gibt es nicht die eine Lösung. Zu Ihrer Frage: So wie es gegenwärtig ist, kann es nicht weitergehen. Bis 2030 wird die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland um 30 Prozent zunehmen – also von derzeit vier Millionen auf sechs Millionen Menschen steigen. Es werden auf der anderen Seite Einrichtungen schließen müssen, die nicht mehr wirtschaftlich betrieben werden können. Wir müssen uns klarmachen, dass die derzeitige professionelle Pflege aufgrund des fehlenden Personals in dieser Form vermutlich nicht mehr leistbar und für jeden verfügbar sein wird. Die Familie, die Nachbarschaft, die Vereine, die Gemeinde vor Ort müssen künftig stärker einbezogen werden. Klar ist auch: Eine angemessene Pflege wird in Zukunft nur zu finanzieren sein, wenn alle solidarisch an der Finanzierung mitwirken. Ohne mehr Steuermittel für diesen Bereich wird es kaum gehen.

Lenke: Die Sozialpolitiker der Fraktionen haben unsere Botschaft schon erkannt, das will ich einräumen. Die Lage spitzt sich jedoch zunehmend zu. Ob das alle Verantwortlichen schon in der Dramatik erkannt haben, da bin ich mir nicht so sicher. Es gibt auch große Unterschiede zwischen der Versorgungssituation in ländlichen und städtischen Gebieten. Was in Großstädten an Angeboten, etwa bei den ambulanten Pflegediensten, noch gut funktioniert, ist in einigen ländlichen Regionen richtig schwierig geworden. In diesem Zusammenhang müssen wir uns auch fragen, ob die Entscheidungen von 1993 richtig waren.



Rundblick: Was genau meinen Sie?

Lenke: Seit 1993 gilt ein marktwirtschaftliches Prinzip, das damals die politische Leitlinie war. Pflege sollte marktgängig werden, Wettbewerb die Kosten drücken. Vor 1993 hatten die Kommunen steuerungs- und ordnungspolitische Instrumente, um eine gute Versorgungssituation im pflegerischen Bereich zu gewährleisten. Danach sollte es der Wettbewerb regeln. Wir sehen heute, dass diese Orientierung eigene Probleme mit sich bringt. So kann es passieren, dass in kleinen Orten zehn Pflegebedürftige von fünf Pflegediensten betreut werden, und jeder dieser Dienste legt dann lange Wegstrecken zurück, um die beiden Pflegebedürftigen, für die sie zuständig sind, zu besuchen.

Rundblick: Wie kann man das abstellen, was schlagen Sie vor?

Lenke: Auf jeden Fall ist eine stärkere kommunale Steuerung sinnvoll. Vor Ort hat man den besten Überblick über die nötigen Schritte und Investitionen. Dann muss es auch darum gehen, sich um die Bereiche zu kümmern, die in der gegenwärtigen, von Wettbewerb geprägten Struktur zu kurz kommen – etwa dünnbesiedelte Orte, die im Winter schwer erreichbar sind.

Rundblick: Sie kritisieren also die marktwirtschaftliche Prägung?

Tepe: Als einziges Kriterium schon! Das Softwaresystem der ambulanten Pflegedienste ist so ausgereift, dass man für jede Tour berechnen kann, ob der Einsatz noch auskömmlich finanziert ist. Das ist aber in der Ausschließlichkeit der falsche Ansatz.

Rundblick: Die Reform der Pflegeversicherung zählt auch zu Ihren Forderungen. Was genau schwebt Ihnen vor?

„Pflege darf nicht länger das Armutsrisiko schlechthin im Alter sein.“

Gerhard Tepe, Direktor des Caritas-Landesverbandes für Oldenburg

Tepe: Es geht um die zunehmende Zahl von Pflegebedürftigen, die in die Sozialhilfe rutschen – da ihre Rente zur Deckung der Heimkosten eben nicht reicht. Gegenwärtig ist dann die Finanzierung so, dass für den Sockelbetrag die Pflegeversicherung aufkommt und den meist deutlich höheren Eigenanteil die Betroffenen selbst oder ihre Angehörigen übernehmen müssen. Wir setzen uns dafür ein, das umzudrehen: Der Pflegebedürftige sollte einen Sockelbetrag zahlen und alles, was darüber hinaus geht, müsste von der Pflegeversicherung aufgebracht werden. Pflege darf nicht länger das Armutsrisiko schlechthin im Alter sein.

Gerhard Tepe | Foto: Link

Rundblick: Wenn Sie sich ein Reformpaket rund um die Pflege wünschen könnten, was wären die wichtigsten Inhalte?

Lenke: Das Finanzierungssystem ist sehr starr und die verschiedenen Sektoren, wie stationäre, ambulante und teilstationäre Pflege sind dabei strikt getrennt. Mit einer sektorenübergreifenden Versorgung würden die Menschen und deren Bedürfnisse wieder im Mittelpunkt stehen und nicht die Finanzierungssysteme. Das wäre ein echter Fortschritt.

Hans-Joachim Lenke (von rechts) und Gerhard Tepe schildern Niklas Kleinwächter und Klaus Wallbaum bei einem Gespräch in der Rundblick-Redaktion die Situation in der Pflege. | Foto: Link

Tepe: Ich sehe die hohen bürokratischen Vorgaben als eine unglaubliche Last an. Wir müssen eine Vertrauenskultur entwickeln – das bedeutet in der Praxis weniger Dokumentations- und Nachweispflichten. Die Pflegekräfte sollen sich um den Patienten kümmern und von Schreibtischarbeiten entlastet werden. Im Übrigen wäre das auch ein Beitrag dazu, das Arbeitsfeld attraktiver zu machen.

Tepe: Die Suizidprävention muss besser werden

Rundblick: Kommen wir zum Thema Sterbehilfe und assistierter Suizid. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil dafür eine Grundlage geschaffen. Wie werden Sie als kirchliche Betreiber damit in Ihren Heimen umgehen?

Lenke: Ich kenne viele alte Menschen, die das Gefühl haben, sie würden ihrer Umgebung, ihren Kindern und der Gesellschaft nur noch Mühsal bereiten. Was ich bisher selten höre, ist die Absicht, sich deshalb selbst zu töten. Als Gesellschaft müssen wir darauf achten, dass Alter und Krankheit nicht nur als gesellschaftliche und individuelle Belastung angesehen werden. Wir dürfen den alten Leuten nicht den Eindruck vermitteln: Es wäre besser, es gäbe Dich nicht mehr.

„Wir dürfen den alten Leuten nicht den Eindruck vermitteln: Es wäre besser, es gäbe Dich nicht mehr.“

Hans-Joachim Lenke, Vorstandssprecher der Diakonie in Niedersachsen
Hans-Joachim Lenke | Foto: Link

Tepe: Ich finde es besonders wichtig, die Suizidprävention zu verbessern und breit über die medizinischen Möglichkeiten zu informieren. Wir haben eine hervorragende Hospizarbeit und Palliativmedizin. Wichtig ist, die Wünsche der Menschen ernst zu nehmen – aber wir sind in der Pflicht, über alle Möglichkeiten der Hilfe aufzuklären und sie anzubieten.

Lenke: Was viele beispielsweise gar nicht wissen, ist die Tatsache, dass heute niemand mehr mit starken Schmerzen sterben muss. Jedem können diese Schmerzen genommen werden. Und in solchen Fällen bereiten sich die Teams in den Pflegeheimen und Kliniken auch sehr gut vor. Was mich in der Corona-Zeit so geärgert hat, ist die Formulierung, viele Menschen seien „in den Altenheimen allein gestorben“. Ohne Angehörige sind manche gestorben, was für alle schlimm genug war. Aber nicht ohne menschliche Begleitung. Pflegekräfte sind oft über sich hinausgewachsen und haben versucht, das Fehlen der Angehörigen zu füllen.



Rundblick: Oft ist der Wunsch vieler Menschen, sich das Leben zu nehmen, ein Ausdruck von Einsamkeit. Was halten Sie von dem CDU-Vorstoß, einen Landesbeauftragten zu diesem Thema zu berufen?

Tepe: In der Tat ein wichtiges Thema. Ob es einen eigenen Beauftragten braucht, darüber muss man diskutieren. Für wichtiger halte ich es aber, auf die Angebote in den politischen und kirchlichen Gemeinden hinzuweisen oder sie auszubauen. Ich denke an Mehrgenerationenhäuser oder Alters-Wohngemeinschaften. Oder nehmen wir die Telefonseelsorge: Sie leistet hier sehr gute Arbeit. Dieses Angebot wird zudem von Ehrenamtlichen getragen.


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Lenke: Ich denke, es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, vor der wir stehen. Viele Menschen haben niemanden mehr, mit dem sie am Tag ein Wort wechseln können. Das ist schrecklich und das können wir als Gesellschaft nicht wollen. Wir müssen hier vielleicht auch über technische und KI-gestützte Unterstützungsmöglichkeiten nachdenken. Und als Kirchen haben wir natürlich eine hohe Verantwortung, einsamen Menschen Anlaufstellen der Begegnung zu bieten. Wir brauchen auch aufsuchende Arbeit, um Menschen wieder in Gemeinschaft zu holen.

Rundblick: Der assistierte Suizid wird begründet mit der These, der Freitod sei eine Form der Selbstbestimmung des Menschen. Wird es in den von Ihnen betriebenen Heimen auch Hilfe zur Selbsttötung geben?

„Unsere Einrichtungen dienen dem Leben. Wir lehnen es ab, aktiv im Sinne des assistierten Suizids tätig zu werden.“

Gerhard Tepe

Tepe: Eindeutig nein. Unsere Einrichtungen dienen dem Leben. Darauf kann sich jeder verlassen, der in eines unserer Häuser einzieht. Auch unsere Mitarbeitenden können und wollen wir vor dieser Gewissensentscheidung bewahren: Wir kümmern uns bis zuletzt um jeden Menschen und machen dessen Leben so lebenswert wie möglich. Und noch mal: Wir lehnen es ab, aktiv im Sinne des assistierten Suizids tätig zu werden.

Lenke: Die Bewohner in unseren Heimen sind unsere Mieter. Sie können, genauso wie Sie bei sich zuhause, Menschen zu sich einladen. Wir wollen und dürfen auch rechtlich darauf keinen Einfluss nehmen. Wenn sich ein Bewohner dafür entscheidet, einen Anbieter für den assistierten Suizid einzuladen, können wir das nicht verbieten. Unsere Mitarbeiter in den Pflegeheimen würden keinen Menschen allein lassen, auch dann, wenn er nicht mehr kann. Aber selbst zur Apotheke gehen und ein tödliches Medikament holen – das würden wir nicht tun. Wir begleiten die Menschen auch auf dem letzten Weg, aber wir reichen ihnen nicht das Gift.



Rundblick: Die Befürworter begründen das mit der Freiheit, auch der Freiheit im christlichen Sinn.

Lenke: Freiheit heißt immer auch Verantwortung. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts spricht von Autonomie und Selbstbestimmung. Diese aber stößt an Grenzen. Wer einseitig die Autonomie des Menschen hervorhebt, der vergisst, dass der Mensch in sozialen Bezügen lebt. Der Ruf nach Selbstbestimmung des Menschen stößt dabei an Grenzen.

Tepe: Man kann leicht auf der philosophischen Ebene diskutieren. Für wichtig halte ich die Grundentscheidung: Die ist bei uns klar für das Leben gefällt. Nach unserer Auffassung sollen Menschen an der Hand von Menschen sterben und nicht durch deren Hand.