Deutschland braucht keinen Bildungsrat, sondern weniger Bildungshürden
Darum geht es: Bundesbildungsministerin Anja Karliczek will einen „Nationalen Bildungsrat“ gründen, in dem Vertreter von Bund, Ländern und Kommunen zusammen mit Bildungsexperten die einzelnen Schulsysteme vergleichbarer machen sollen. Niedersachsens Kultusminister Grant Hendrik Tonne hält das für unsinnig. Mit Recht, findet Isabel Christian.
„Wenn man nicht mehr weiterweiß, gründet man `nen Arbeitskreis“. Das ist eine treffende Bezeichnung für einen in der Politik sehr beliebten Vorgang. Der Bundesbildungsministerin ist angesichts der Herausforderungen im Bildungsbereich wie Digitalisierung, Teilhabe und Inklusion ein einziger Arbeitskreis zu schnöde, sie will gleich das ganz große Rad drehen – mit Zwei-Kammer-Beratungssystem, Vollversammlung und ausgewiesenen Bildungsexperten. Das Ganze soll den unbescheidenen Namen „Nationaler Bildungsrat“ tragen. Und wer das für großspurig hält, dem wird die Ministerin entgegnen: „Damit orientieren wir uns an dem schon bestehenden Nationalen Wissenschaftsrat.“ Doch die Wissenschaft führt in den Ländern eher ein Schattendasein, während die Schulpolitik ein Hauptaktionsfeld der Landespolitik ist. Die Landtage nutzen den Bereich für eigene Schwerpunktsetzungen. Es ist daher davon auszugehen, dass ein „Nationaler Bildungsrat“, in dem auch noch externe Experten und der Bund mitdiskutieren wollen, noch weniger zustande bringen wird als die Kultusministerkonferenz, die sich heute schon mit einer Verständigung zwischen den Ländern schwer tut.
Allerdings ist der Grundgedanke der Bundesbildungsministerin nicht falsch. Die 16 unterschiedlichen Bildungssysteme haben auch Nachteile, vor allem für die, die in ihnen lernen und lehren. Zu den Problemen zählen die Herausforderungen, vor denen gerade alle Schulen von Flensburg bis Füssen stehen. Wie können Flüchtlingskinder in den Unterricht integriert werden, sodass ihnen schnell alle Türen im Bildungssystem offen stehen? Wie kann das recht schwerfällige Bildungssystem optimal auf das Leben und Arbeiten in einer immer weiter digitalisierten Welt vorbereiten? Wie muss moderne frühkindliche Bildung gestaltet sein? „Das sind riesige Herausforderungen, und da macht es Sinn, auf größerer Ebene zusammenzuarbeiten“, sagt Kultusminister Grant-Hendrik Tonne. Doch das könne auch eine Kultusministerkonferenz leisten. Sofern sie effektiver arbeiten würde.
Hinter vielen Fragen stecken neue Phänomene, zu denen es viele Expertenmeinungen, aber wenig praktische Erfahrungen gibt. Das Stichwort ist hier Vergleichbarkeit. Noch immer belegen regelmäßig Studien, dass der Eindruck, in Hamburg bekomme man sein Abitur quasi nachgeworfen, während man in Bayern dafür sein Privatleben der Schule opfern müsse, mehr als nur eine gefühlte Wahrheit ist. Das Zentralabitur ist ein gut gemeinter Versuch, das zu ändern, doch er führt nur zu einer Vergleichbarkeit auf dem Papier. Noch immer kann keine Uni und kein Arbeitgeber davon ausgehen, dass Fiete aus Schleswig-Holstein den gleichen Wissensstand in Mathe hat wie Moritz aus Baden-Württemberg.
Dazu kommt, dass eine gesellschaftliche Entwicklung meist unter den Tisch fällt, wenn es um mehr Vergleichbarkeit und Transparenz in den deutschen Bildungssystemen geht: die Mobilität. Für viele Berufstätige, vor allem die der Generationen unter 40 Jahren, ist es längst normal, dorthin zu gehen, wo der Job ist. Selbstverwirklichung ist für immer mehr Männer und Frauen wichtiger als Beständigkeit. Und wenn der aktuelle Traumjob eben in einem anderen Bundesland ist, dann zieht die ganze Familie eben von Meppen nach Münster. Und in zwei Jahren von Münster nach Mainz. Für die Kinder heißt das nicht nur: neue, Schule, neue Lehrer, neue Klassenkameraden, sondern auch: neues Bildungssystem. Das kann Chancen bieten, aber auch Wege verbauen. In Berlin geht es erst nach sechs Jahren auf eine weiterführende Schule, in Bonn aber schon nach vier: Wohin also mit dem Fünftklässler? In Sachsen steht Chemie erst in der siebten Klasse auf dem Stundenplan, in Bremen aber schon ab der Fünften: Wo ist der Nachhilfelehrer, der das fehlende Wissen beibringen kann? Und wie viele Hundert Euro kostet das?
Dass föderale System in der Bildung ist gut und richtig, weil es zur Folge hat, dass die Entwicklung des Bildungssystems in Deutschland nie stehen bleibt. Doch die gesellschaftlichen Veränderungen machen es nötig, dass sich die Länder endlich auf ein Grundgerüst im Schulsystem einigen. Darüber ist der Raum für individuelle Ausgestaltung immer noch groß genug, doch die Kinder können sicher sein, dass sie den Anschluss nicht verpassen, ob sie jetzt in Bottrop zur Schule gehen oder in Bodenwerder. Doch leider ist die Bereitschaft für Zusammenarbeit auf diesem Gebiet in den Kultusministerien noch ziemlich klein.
Mail an den Autor dieses KommentarsDieser Artikel erschien in Ausgabe #98.