Der Strommarkt ist „volatil“, sagen die einen. Die Energiepreise spielen völlig verrückt, sagen die anderen. Selbst Branchenexperten wie Susanna Zapreva, Vorstandsvorsitzende von Niedersachsens zweitgrößtem Energieversorger Enercity, geben derzeit lieber keine Prognosen zur weiteren Marktentwicklung mehr ab. „Jeder Ausblick ist mehr als problematisch“, meinte die promovierte Elektrotechnikerin beim Enercity-Jahrespressgespräch. 2022 lebt Zapreva mit ihrem Konzern deswegen in „zwei parallelen Welten“: Die Enercity-Chefin will auf erneuerbare Energie setzen, „so als wenn nichts wäre“, und gleichzeitig auf Lieferengpässe vorbereitet sein.
Bis zum nächsten Winter kommen wir auf jeden Fall.
Susanna Zapreva, Vorstandsvorsitzende Enercity AG
„Bis zum nächsten Winter kommen wir auf jeden Fall“, versicherte Zapreva. Alles Weitere hängt von den Gaslieferungen aus Russland ab. Da nutzt es dem hannoverschen Energieunternehmen auch nichts, dass fast 85 Prozent des eigenen Erdgases aus den Niederlanden geliefert werden und die eigenen Gasspeicher vergleichsweise gut gefüllt sind. Wenn Alarmstufe 3 des „Notfallplans Gas“ in Kraft tritt, werden die Vorräte von der Bundesnetzagentur verwaltet und zugeteilt. „Dann sind wir ein ausführendes Organ“, sagte Zapreva.

Komplett voll könnten die fünf Kavernenspeicher in Empelde etwa ein Drittel des hannoverschen Jahresverbrauchs sichern, erläuterte Zapreva. Derzeit seien die Kavernen aber nur zu etwas mehr als 40 Prozent gefüllt. „Normalerweise sind die Speicher zu dieser Zeit sogar noch leerer“, sagte die Enercity-Chefin. Wie hart eine Gasrationierung die Industriekunden treffen würde, kann sie zwar nicht sagen. Die Absatzzahlen lassen allerdings auf schwerwiegende Auswirkungen schließen: Von den 8,4 Terawattstunden Gas, die Enercity im vergangenen Jahr an Endkunden verkauft hat, gingen laut Zapreva nur rund 40 Prozent an Privat- und Gewerbekunden. Der Rest wurde von Großkunden verbraucht, zu denen allerdings auch das Gaskraftwerk in Hannover-Linden zählt. Um Erdgas zu sparen, könnte zwar ein Teil der Fernwärmeversorgung von Gas auf Kohle umgestellt werden. Die Steinkohle, die im Kraftwerk in Stöcken verfeuert wird, kommt bislang allerdings auch aus Russland.

Am Kohleausstieg will Enercity weiterhin festhalten. Als Ersatz für den Kohlemeiler in Stöcken werden ein neues Altholz-Heizkraftwerk, eine Klärschlammverwertungsanlage und zwei Biomethan-Blockheizkraftwerke gebaut. „Wir fühlen uns bestätigt, dass wir nicht auf die Brückentechnologie Erdgas gesetzt haben. Das führt dazu, dass wir ein paar Sorgenfalten weniger auf der Stirn haben“, sagte Zapreva. Gegen schlaflose Nächte dürfte auch das Jahresergebnis 2021 helfen: Enercity steigerte seinen Umsatz um 29 Prozent und knackte erstmals die 5-Milliarden-Euro-Marke. „Das ist ein absoluter Rekord“, freute sich Finanzvorstand Marc Hansmann und vermeldete auch beim Gewinn vor Steuern einen Anstieg um 100 Millionen auf jetzt 330 Millionen Euro. Hansmann schlüsselte auf, dass der Umsatz zwar zu jeweils 20 Prozent auf Witterung und Pandemieeffekte zurückzuführen seien. Bei 60 Prozent handele es sich aber um natürliches Wachstum.

Linden wandelt
Erdgas in Strom und
Fernwärme um. | Foto: GettyImages/Axel Goehns
„Wir haben viele Kunden übernommen, die ihren Energie-Discounter verloren haben“, berichtete Zapreva. In den vergangenen Monaten habe Enercity mehr als 50.000 Neukunden aufgenommen. Laut Bundesnetzagentur hatten 2021 bundesweit insgesamt 39 Energielieferanten ihr Geschäft aufgegeben – doppelt so viele wie in durchschnittlichen Jahren. Der Billiganbieter Stromio etwa hatte in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass sich die „in der Spitze um mehr als 400 Prozent“ erhöht hätten. Zapreva berichtete, dass sich die Strompreise für ihr Unternehmen um rund 120 Prozent verteuerten, die Gaspreise um 127,5 Prozent und der CO2-Preis um 115,5 Prozent. Der Ölpreis pro Barrel sei von knapp 42 auf 71 Dollar gestiegen.
Enercity habe es dabei in die Karten gespielt, dass sich der Konzern aufgrund seiner ambitionierten Wachstumspläne frühzeitig viele Reserven verschafft hatte. Viele Mitbewerber seien längst nicht so gut aufgestellt. „Es haben sich schon viele Unternehmen vom Markt verabschiedet. Und wenn es zu Ausfällen von Lieferanten kommt, werden wir einen Dominoeffekt erleben. Dann werden viele Unternehmen Liquiditätshilfen brauchen“, sagte Zapreva.
EWE und Avacon
Ob auch die beiden anderen Energie-Großkonzerne aus Niedersachsen von der Pleitewelle profitiert haben, ist noch unklar. Die Avacon AG aus Helmstedt, die zuletzt 2020 einen Jahresumsatz von knapp 2 Milliarden Euro erwirtschaftet hatte, legt ihren Jahresabschluss erst zur Aktionärsversammlung am 4. Mai vor. Avacon ist ein Tochterunternehmen des E.ON-Konzerns (61,5 Prozent Aktienanteil) und hält wiederum die Mehrheit (50,1 Prozent) an der SVO-Gruppe mit Sitz in Celle. Die EWE AG aus Oldenburg, das größte Energieunternehmen Niedersachsens, hat ebenfalls noch keine Jahreszahlen vorgelegt. Ein Umsatzwachstum gilt aber als sicher. Fürs erste Halbjahr 2021 vermeldete EWE einen Zugewinn von 204 Millionen Euro (plus 7,2 Prozent) gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 2020 hatte der Oldenburger Konzern einen Jahresumsatz von 5,6 Milliarden Euro erwirtschaftet.
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