18. Mai 2020 · 
Kolumne

Denke ich wirklich zu denken, oder denke ich nur ein Denken des Denkens?

Liebe Niedersachsen, „denke ich denn auch wirklich oder denke ich nur zu denken? Und denke ich wirklich zu denken, oder denke ich etwa nur ein Denken des Denkens?“, fragte einst der Philosoph Johann Gottlieb Fichte, der alte Idealist, dessen Geburtstag sich heute zum 258. Mal jährt. Und auch zweieinhalb Jahrhunderte später ist das mit dem Denken so eine Sache. Der hannöversche Uni-Professor Stefan Homburg zum Beispiel denkt, dass wir gerade im Jahr 1933 leben: https://twitter.com/SHomburg/status/1262097269295382528

Vielleicht denkt Stefan Homburg auch nur zu denken, dass in seinem Denken gerade 1933 ist. Ich war auf jeden Fall kurz verunsichert und habe sicherheitshalber noch mal im Kalender nachgesehen. Und siehe da: ist doch immer noch 2020. Eigentlich kein Wunder, denn im Jahr 1933…


  • hätte Stefan Homburg seinen Text gar nicht in einen Tweet schreiben können (kein Twitter, kam erst 2006)

  • wäre der Tweet, hätte ihn Homburg schreiben können, möglicherweise mit der nicht vorhandenen Meinungsfreiheit kollidiert (Nazi-Notverordnung im Februar 1933)

  • und hätte ich heute nicht darüber schreiben können (der Rundblick erscheint erst seit 1964)

 

Also: Lassen Sie den Kalender hängen, der stimmt noch. „Wenn du denkst du denkst, dann denkst du nur du denkst“, sangen schon Die Fantastischen Vier im Jahr 1992. Passender Titel des Songs: Na gut.

https://www.youtube.com/watch?v=UmxeKH7Byjc Dabei haben wir in Deutschland für historische Rückblicke gar keine Zeit, schließlich ist das Volk der Mülltonnendurchstöberer und Über-den-Zaun-Gucker doch gerade wieder in seinem Element und mit dem Smartphone immer auf der Suche nach dem nächsten Schnappschuss, um schlampigen Umgang mit der Maskenpflicht zu dokumentieren. Neben dem Vorwurf, dass in der Bundestagskantine, sagen wir mal, recht sportlich mit der Maskenpflicht umgegangen wird, wurde das Fehlverhalten von Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (offizieller Termin) und FDP-Chef Christian Lindner („Leserreporter“-Schnappschuss) mit Bild angeprangert. https://twitter.com/hrtgn/status/1262119738018279425 Auch wenn Lindner offenbar sogar bei Umarmungen das Handy im Selfie-Stil in der Hand hält, hat er sich diesmal nicht selbst fotografiert. Aber das nur nebenbei. Wenn nun nach diesem Bild sogar die „Spiegel“-Hauptstadtjournalistin ganz tief in die sprachliche Kreativitätskiste greift („Schnitzel first, Mundschutz und Abstandsregeln second“) und dann auch noch Jan Böhmermann zu dem Skandal twittert, dann zieht man sich die Maske am besten vollständig über das Gesicht, bis sich die Aufregung in der Twitterblase wieder gelegt hat.

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Nun mal wieder zu den wichtigen Geschehnissen bei uns im Land. Sozialministerin Carola Reimann hat ihren Fichte gelesen, schließlich hat der schon gesagt: „Der Mensch ist bestimmt, in der Gesellschaft zu leben. Er ist kein ganz vollendeter Mensch und widerspricht sich selbst, wenn er isoliert lebt.“ Deshalb hat die Isolation in Krankenhäusern und Pflegeheimen nun ein Ende, allerdings gilt auch hier: Hygienekonzept first, Besuch second. Carola Reimann erklärt es natürlich seriöser – hier zu hören: https://www.youtube.com/watch?v=tanX2rYKtvA Und dann war gestern auch noch Finanzminister Reinhold Hilbers in Sachen Steuerschätzung in der Landespressekonferenz. Man möchte eigentlich gar nicht hören, was er dort zu berichten hatte. Die zart Besaiteten scrollen an dieser Stelle weiter runter, die Knallharten klicken hier: https://www.youtube.com/watch?v=wLGlw3XjWi0 In der Fernsehserie „Pastewka“ rast der Hauptdarsteller in einer Folge auf der Landstraße auf eine Katze zu, sagt dabei zu seiner Beifahrerin „Ich seh's. Ich seh's“, ohne allerdings auf die Idee zu kommen, auf die Bremse zu treten. So ähnlich kommen einem gerade DGB und Grüne in Niedersachsen vor, die den Ausgaben-Gasfuß trotz des dramatischen Einbruchs der Steuereinnahmen nicht vom Pedal bekommen. Am Ende der Szene rummst es übrigens. https://www.youtube.com/watch?v=kY2quN4FfMA

„Darum hilft alles Schreiben nicht mehr, weil niemand mehr lesen kann“, schrieb Fichte damals, und Fichte kann nur gedacht haben, dass niemand mehr lesen konnte, sonst hätten wir das alle ja nicht mehr lesen können. Wir setzen deshalb auch morgen wieder auf die geschriebene TagesKolumne und damit unser ganzes Vertrauen auf Ihr Lesevermögen.

Ich wünsche Ihnen einen idealistischen Dienstag

Martin Brüning

Martin Brüning
AutorMartin Brüning

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