23. Aug. 2017 · 
Inneres

Das Nicht-Thema Flüchtlinge

Darum geht es: Der Niedersächsische Flüchtlingsrat hat gestern beklagt, dass über das Leid der Menschen, die ihre alte Heimat verlassen und bei uns Zuflucht suchen, kaum noch diskutiert wird. Ein Kommentar von Klaus Wallbaum. Es hat eine gute und eine schlechte Seite, dass über die Situation der Flüchtlinge in Deutschland derzeit so wenig diskutiert und gestritten wird. Offensichtlich ist die momentane Lage im Großen und Ganzen entspannt, die Integration läuft ohne dramatische, überregional große Wellen schlagende Probleme. Sie ist Alltagsarbeit für Kommunen, Sprachförderer, Ehrenamtliche und vor allem auch für jene, die nun in Deutschland Schritt für Schritt eine neue Heimat finden und sich anpassen müssen. Ohne eine breite öffentliche Diskussion über die Zuwanderung haben auch Rechtspopulisten mit ihren Abgrenzungs- und Abschottungstendenzen wenig Anknüpfungspunkte.  Das sind die Pluspunkte. Aber Minuspunkte gibt es eben auch. Wenn ein Thema, das einst überragend war, plötzlich aus der öffentlichen Debatte fast vollständig verschwindet, droht das geneigte Publikum das Interesse daran rasch zu verlieren. Schnell kommt man dann zu der irreführenden Einschätzung, alles verlaufe doch schon in geordneten Bahnen und man müsse nicht mehr hinschauen. Dem Niedersächsischen Flüchtlingsrat ist zu danken, dass er gestern sehr eindrücklich vor einer solchen Haltung gewarnt hat. Wie der Geschäftsführer Kai Weber sagte, ist in Europa eben nicht alles in Ordnung. Die tatsächliche Bereitschaft der EU-Länder, Flüchtlinge aus Italien und Griechenland aufzunehmen, bleibe einerseits hinter den Ankündigungen weit zurück, so auch in Deutschland. Andererseits stünde es Niedersachsen gut an, so meint Weber, wenn die Landesregierung zu der alten Praxis zurückkehre und auch syrischen Flüchtlingen erlaube, Familienangehörige hierher zu holen – ein Schritt, der trotz der Bremsen im Bundesrecht möglich sei und von einigen Bundesländern auch gegangen werde. Ob dieser Ratschlag wirklich sinnvoll ist, sei dahingestellt. Richtig ist aber die Forderung, die Landespolitik möge den Lebensumständen der Zugewanderten mehr Aufmerksamkeit schenken. Dafür werden auch die Kommunen dankbar sein – denn in Städten wie Salzgitter, einem Hauptzuzugsort von anerkannten Asylbewerbern aus Syrien, sorgt man sich wegen der Gefahr, dass sich Ghettos bilden können. Der Oberbürgermeister hat schon im vergangenen Jahr an das Land geschrieben und um Hilfe gebeten. Bisher ohne eine befriedigende Antwort. Das Beispiel Salzgitter passt hier sehr gut: Es gibt keine gravierenden Engpässe in der Versorgung der Menschen, es gibt keine langen Warteschlangen an irgendwelchen Ausgabeplätzen und keine Notwendigkeit, für über Nacht eintreffende Menschenmassen neue Flüchtlingslager zu bauen. Von einer Art „Notstand“, wie es ihn 2015 und teilweise noch 2016 gab, ist nichts mehr zu spüren. Trotzdem wird es nicht weniger wichtig für die Politik, sich intensiv zu kümmern um die Integration – und zwar im Sinne des Wortursprungs, nämlich: erneuern, ergänzen und geistig auffrischen. Die Flüchtlinge sollen sich eingliedern in die deutsche Gesellschaft, sich einordnen und durch ihr Anderssein die hiesige Gemeinschaft beleben. Das geht nur, wenn sich keine Parallelgesellschaften bilden, und vor diesen kann man sich nur schützen, wenn vor allem die deutsche Sprache zielstrebig und nachdrücklich vermittelt wird. Das Land stellt hierfür sehr viel Geld zur Verfügung – und immer wieder ist eine Überprüfung angebracht, ob die damit bezahlten Projekte vor Ort gut und richtig organisiert sind. Zweifeln muss zügig nachgegangen werden. Tut Niedersachsen hier genug? Till-Matthias Jürgens von einer Hilfsorganisation aus Bispingen drückt es so aus: Die Wahrnehmung des Flüchtlingsproblems habe sich für die meisten Menschen hierzulande verschoben – weg vom Nachbarhaus, in dem syrische Familien untergebracht werden, hin zum Fernsehbildschirm, auf dem nur noch abstrakt über das Schicksal von Flüchtenden berichtet werde. Aber diese allgemeine Darstellung im Fernsehen berühre die Leute eben weniger. Christoph Künkel vom Diakonischen Werk der evangelischen Kirchen Niedersachsens meint: „Die Bereitschaft, sich offen für Flüchtlinge auszusprechen, ist gegenwärtig nicht vorhanden.“ Der Flüchtlingsrat hadert auch mit Innenminister Boris Pistorius, der sich für Auffanglager für Asylbewerber etwa in Nordafrika ausgesprochen hat – eine Idee, die beim Geschäftsführer Kai Weber auf harsche Ablehnung stößt. „Unerträglich“ sei dieser Vorschlag, meint er. Anstelle einer Willkommenskultur wolle man das Problem „weit in den Süden schieben“. Gleichwohl erkennt der Flüchtlingsrat an, dass Pistorius regelmäßig mit ihm in Kontakt tritt und ihn einbezieht, auch wenn es um den Umgang beispielsweise mit Härtefällen geht, die vor einer Abschiebung bewahrt werden sollen. Immerhin, das ist ein Weg. Nichts wäre derzeit schlimmer, als aus dem Fehlen einer breiten öffentlichen Debatte über die Flüchtlinge den falschen Schluss zu ziehen, das Probleme habe sich „erledigt“. Das wäre eine krasse Fehleinschätzung. Mail an den Autor dieses Kommentars
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #145.
Klaus Wallbaum
AutorKlaus Wallbaum

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