Es gibt eine Reihe von Eigenschaften, die Grant Hendrik Tonne in den Kreis der wenigen wichtigen Spitzenpolitiker der niedersächsischen SPD heben. Erstens: Der 48-Jährige drängelt sich nicht nach vorn, kann sich zurückhalten und hat bisher immer den Eindruck vermittelt, nicht von Ehrgeiz getrieben zu sein. Das lässt sein Wesen angenehm erscheinen. Zweitens: Er ist ein sehr sachlicher Politiker, der trotz aller Leidenschaft meistens sehr rational argumentiert und zur Begründung für seine Haltungen immer viele Fakten parat hat. Drittens: Die preußischen Tugenden der Pünktlichkeit, Verlässlichkeit und Bescheidenheit passen gut auf ihn. Und schließlich viertens: Tonne genießt in eigenen Reihen ein hohes Ansehen, man kann es auch Autorität nennen.

Vor zweieinhalb Jahren, nach der Landtagswahl, wirkte der Sozialdemokrat rundum froh über sein neues Amt – das des SPD-Fraktionsvorsitzenden im Landtag. Hinter ihm lagen damals fünf Jahre als Chef im Kultusministerium, fünf Jahre Debatten mit Lehrerverbänden und aufgebrachten Eltern, fünf Jahre Mangelverwaltung wegen eines beständig steigenden Lehrerbedarfs, der nie befriedend erfüllt werden konnte. Die Corona-Zeit mit den höchst umstrittenen Schulschließungen kam hinzu. Für Tonne musste dieses Amt als wahre Last erscheinen, zumal er von Hause aus auch eher Rechts- als Bildungspolitiker war. Zum Kultusminister wurde er nur wegen eines sonderbaren Zufalls: Tonne verlor 2022 seinen Wahlkreis Nienburg-Schaumburg, kam also nicht wieder in den Landtag. Da der Abschied der bisherigen Kultusministerin Frauke Heiligenstadt sich schon abgezeichnet hatte, verpflichtete Stephan Weil Tonne für die Nachfolge – und damit für die schwierigste Baustelle im Kabinett. Es gelang dem neuen Kultusminister, die Wogen der bildungspolitischen Konflikte zu glätten – trotz der Tatsache, dass die Probleme an den Schulen nicht kleiner, sondern eher größer wurden. Aber die Härte der Auseinandersetzungen, die in der Schulpolitik oft noch ein paar Stufen höher rangiert als in anderen Themenfeldern, muss Tonne zugesetzt haben.
Manche hätten daher noch im März Wetten darauf abgeschlossen, dass Tonne in seinem neuen Amt des SPD-Fraktionschefs bleiben wird. Er wurde dort erst jüngst mit 100 Prozent bestätigt – und vollzieht den Job viel besser, umsichtiger und einfühlsamer als seine Vorgängerin, die Ostfriesin Johanne Modder. Vor allem aber vermittelte Tonne den Eindruck einer großen Zufriedenheit. Der Chef der SPD-Landtagsfraktion ist viel wichtiger als das jedes einzelnen Ministers. Die Abgeordneten der rot-grünen Koalition im Landtag müssen bei der Regierungsarbeit mitziehen, auch unpopuläre Entscheidungen mittragen und immer für die Abwehr von Angriffen der Opposition gerüstet sein. Die wichtigsten Entscheidungen bespricht ein Ministerpräsident mit zwei Leuten – seinem Chef der Staatskanzlei, das wird der bisherige Wirtschafts-Staatssekretär Frank Doods sein, und mit dem Chef der SPD-Fraktion. Diese wichtige Position gibt Tonne nun ab, ohne dass ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin mit auch nur annähernd ähnlichen Fähigkeiten am Start stünde.
Warum tut Tonne dies? Die erste Erklärung wäre, dass er sich – trotz der negativen Erfahrungen in seiner Kultusminister-Zeit – doch für eine weitere Politikkarriere öffnet. Das könnte heißen, dass Tonne sich auch bereit hält für eine mögliche Nachfolge des wahrscheinlichen Ministerpräsidenten Olaf Lies. Lies wird bei der Landtagswahl 2027 das 60. Lebensjahr erreicht haben, Tonne ist dann erst 51. In der Generation der 40-Jährigen sind noch einige andere Sozialdemokraten, die für den weiteren Aufstieg in der Landespolitik in Betracht kämen. Das gilt etwa für den OB von Braunschweig, Thorsten Kornblum, für den hannoverschen Regionspräsidenten Steffen Krach oder für SPD-Fraktionsgeschäftsführer Wiard Siebels. Mit seinem Ministeramt wird Tonne nun aber seine eigene Ausgangsposition für mögliche weitere Karriereschritte enorm verbessern.
Die zweite Erklärung lautet, dass Tonne womöglich selbst nicht in die Regierung wechseln wollte, aber von Olaf Lies darum gebeten wurde – oder aber, was auch möglich wäre, sowohl von Olaf Lies wie auch von Stephan Weil. Die Vita des Juristen Grant Hendrik Tonne, Familienvater und kommunalpolitisch stark verankert, lässt bei ihm durchaus das durchschimmern, was man unter einem „Parteisoldaten“ versteht. Das ist jemand, der zwar seine eigenen Ziele und Bedürfnisse hat, es aber nie ablehnen würde, sich in ernsten Situationen in die Pflicht nehmen zu lassen. Der künftige Ministerpräsident Olaf Lies gilt als Menschenfischer, großer Kommunikator und „Macher“ – weniger aber als großer Stratege und planvoll vorgehender Politiker. Diese strategischen Eigenschaften sind aber bei Tonne stark ausgeprägt, er ist ein Schachspieler und Zahlenmensch, hat hohe analytische Fähigkeiten und verkörpert damit viele Eigenschaften, die Lies gerade nicht hat. Gut möglich ist daher, dass Lies ihn an seine Seite ins Kabinett holen wollte, um möglichst eng mit seinem Wirtschaftsminister in wirtschaftlichen Krisenzeiten kooperieren zu können.
Die Politik ist für Tonne ohnehin etwas, was schon von frühester Kindheit dazugehört – ebenso wie die ländliche Prägung. In seinem Heimatort Leese, wo er aufgewachsen ist, war schon der Urgroßvater Bürgermeister, beide Großväter waren auch kommunalpolitisch aktiv, Tonnes Mutter war eine engagierte SPD-Kommunalpolitikerin, sogar stellvertretende Bezirksvorsitzende. In Bremen hat Tonne Jura studiert, seine Mutter überzeuge ihn einst, für den Gemeinderat zu kandidieren – und er erhielt dann bei der Wahl überraschend viele Stimmen und blieb dabei. Es folgten Samtgemeinderat, Kreistag, ehrenamtliche Bürgermeisterzeit in Leese von 2006 bis 2018 (einem Ort mit mehr als 70 Prozent Stimmen für die SPD) und schließlich Landtag. Dort wurde er bald zum Parlamentarischen Geschäftsführer, dann zum Minister und schließlich zum Chef der Landtagsfraktion. Die politischen Karriereschritte in Hannover waren immer verknüpft mit der engen Rückkoppelung zur Heimat im kleinen Dorf Leese, wo Tonne mit seiner Frau, mit der er seit 30 Jahren zusammen ist, und den vier Kindern. Drei Hobbys von Tonne sind bekannt – das Schachspiel, das Laufen, das er vorübergehend nach einer Verletzung einschränken musste, und die Ahnenforschung. Bodenständigkeit und Heimatverbundenheit zeichnen ihn stärker aus als viele andere Politiker.
Vielleicht mag zu dem Rollenwechsel vom Fraktionschef zum Wirtschaftsminister auch beigetragen haben, dass sein Talent weniger in der Attacke auf den politischen Gegner besteht. So etwas braucht man in einer dörflichen Umgebung sowieso weniger. Als Debattenredner wirkt er zuweilen etwas zu verkniffen und zu oberlehrerhaft, das Spielerische solcher Auseinandersetzungen fällt dem Parlamentarischen Geschäftsführer Wiard Siebels leichter. Das Mikro-Management von politischen Konflikten, wie es von einem Wirtschaftsminister gerade in einer Wirtschaftskrise verlangt wird, passt das schon stärker zu Tonnes Fähigkeiten. Das gilt, obwohl ihm Kritiker, die es auch gibt, zuweilen einen „juristischen Blick“ nachsagen – nämlich die zu starke Orientierung an dem, was rechtlich erlaubt und geboten erscheint. Manchen Juristen begegnet dann der Vorwurf, sie seien nicht kreativ und gestaltungswillig genug. Tonne wird im neuen Amt zeigen müssen, dass das für ihn nicht gilt.