Die Zeiten waren ganz andere, die Mehrheitsverhältnisse auch – und die Akteure unterscheiden sich von den heutigen grundsätzlich. Aber dennoch erinnert manches von den Umständen und Abläufen, die sich im Frühsommer 1970 im niedersächsischen Landtag zugetragen haben, an die aktuellen Vorgänge. Auch wenn 47 Jahre dazwischen liegen: Parallelen sind erkennbar.

Manchmal wiederholt sich Geschichte eben doch – zumindest ein bisschen. – Foto: Christian

Abbild der Bundesregierung

Die Vorgeschichte beginnt 1965. Schon im Vorgriff auf den Bund, wo 1966 die Große Koalition unter Kanzler Kurt-Georg Kiesinger ins Leben gerufen wurde, wollten SPD und CDU eine gemeinsame Landesregierung bilden, das SPD/FDP-Bündnis war zuvor am Streit über das Konkordat zerplatzt. Die neue Regierung unter Ministerpräsident Georg Diederichs (SPD) und seinem Stellvertreter, Kultusminister Richard Langeheine (CDU) wurde nach der Landtagswahl 1967 erneuert, sie war eine ganze Zeitlang ein Abbild der Bundesregierung. Doch als 1969 in Bonn die große Wende kam, die SPD mit Willy Brandt erstmals den Kanzler stellte und die FDP sich zur Partnerschaft mit der SPD bekannte, belastete das auch die Zusammenarbeit von Sozial- und Christdemokraten in Niedersachsen. Im Landtag gab es vier Parteien, neben SPD und CDU noch FDP und NPD. Vor allem dem damaligen CDU-Fraktionschef Bruno Brandes wurde das Geschick zugeschrieben, Abtrünnige aus anderen Parteien zu sich herüberzuziehen. Das geschah mit drei Abgeordneten der FDP, die gegen die neue Ostpolitik der Ära Brandt/Scheel protestierten, auch mit einem früheren Abgeordneten der NPD, Helmut Hass, der die NPD verließ und als Gast einen Platz in der CDU-Fraktion bekam.

Fraktionswechslerin starb

Zu denen, die die Fraktion wechselten, gehörte auch die einflussreiche Maria Meyer-Sevenich (SPD), die auch mit der neuen Ostpolitik fremdelte und im Februar 1970 zur CDU ging. So hatten CDU und FDP auf einmal eine rechnerische Mehrheit im Landtag, aber kurze Zeit später starb Meyer-Sevenich, für sie rückte dann ein SPD-Abgeordneter nach. Beobachter erinnern sich, dass es damals gar nicht so leicht gewesen sei, den Blumenkranz auf den Tisch der gestorbenen Abgeordneten zu legen – sollte man sie bei der SPD oder bei der CDU verorten? Trotz des Todes von Meyer-Sevenich verfolgte CDU-Fraktionschef Brandes weiter den Plan, Diederichs mit einem konstruktiven Misstrauensvotum zu stürzen. Doch die Sache hatte einen Haken: Da CDU und FDP keine eigene Mehrheit hatten, wären sie auf die Unterstützung des ehemaligen NPD-Politikers Helmut Hass angewiesen gewesen. Sollte man das wagen? Und würde die FDP überhaupt geschlossen für einen CDU-Ministerpräsidentenkandidaten Richard Langeheine stimmen, während sie in Bonn gerade eine neue sozialliberale Ära einläutet?

Keine Selbstauflösung

In der CDU begann damals ein Kräftemessen. Der junge Generalsekretär Dieter Haaßengier redete auf den ebenfalls noch jungen Landesvorsitzenden Wilfried Hasselmann ein, die Sache mit dem konstruktiven Misstrauensvotum lieber sein zu lassen – man könne sich doch nicht mit Hilfe eines abtrünnigen NPD-Politikers in die Regierung hieven. Brandes stand für einen anderen Kurs. Derweil verdüsterte sich das Klima in der Großen Koalition. Als die drei FDP-Abgeordneten zur CDU gekommen waren, forderte die CDU einen Ministerposten mehr und mehr Einfluss auf das Stimmverhalten im Bundesrat. Diederichs lehnte ab. Als dann der frühere NPD-Mann Hass als Hospitant zur CDU-Fraktion stieß, entließ der Ministerpräsident die der CDU angehörenden Minister. Er konnte sich damit jedoch nicht durchsetzen, da die Landtagsmehrheit die Zustimmung zu dieser Entlassung versagte. Ein SPD-Antrag auf Selbstauflösung des Parlaments fand auch nicht die nötige Mehrheit – und so blühten in der CDU wieder die Pläne des „konstruktiven Misstrauensvotums“ auf. Doch die CDU konnte sich dazu nicht durchringen, Brandes unterlag gegenüber Hasselmann. Der frühere Präsident des Staatsgerichtshofs, Jörn Ipsen, spricht in diesem Zusammenhang von einer „Verfassungskrise“: Zur Beendigung der Koalition fehlten ebenso Landtagsmehrheit und Willen der Akteure wie zum Misstrauensvotum und Sturz des Ministerpräsidenten. Es gab eine politische Selbstblockade. Schließlich rangen sich Sozial- und Christdemokraten doch zu einem Antrag auf Parlamentsauflösung durch.

Abgeordnete riskierten Verlust ihrer Rentenansprüche

Doch ein solcher Schritt, der heute relativ unproblematisch erscheint und kommenden Montag auch zügig beschlossen werden dürfte, war damals noch hürdenreich. Die Landesverfassung sah seinerzeit vor, dass die alte Wahlperiode mit dem Neuwahltermin endet, nicht etwa mit Zusammentritt des neuen Landtags, einem ein bis zwei Monate später liegenden Termin. Notfalls hätte also ständiger Ausschuss gegründet werden müssen, der die noch unerledigten Gesetzesvorhaben anstelle des Landtags beschließt. Bedeutsam war diese alte Bestimmung auch für die Versorgungsansprüche der Abgeordneten. Da solche nur begründet waren, wenn man mindestens zwei Wahlperioden im Landtag tätig war (also acht Jahre), ein nahtloser Übergang in die nächste Periode aber bei einer Selbstauflösung nicht möglich gewesen wäre, hätten viele Abgeordnete den Verlust ihrer Rentenansprüche riskiert.

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Außerdem wäre die Wahlperiode um ein Jahr verkürzt worden, manche hätten die achtjährige Mindestzeit damit verpasst. Daher lehnten viele Abgeordnete die geplante Selbstauflösung zunächst aus Angst vor eigenen Einbußen ab. Aber man fand einen Ausweg: Beschlossen wurde seinerzeit zunächst, die alte Wahlperiode nicht sofort mit dem Auflösungsbeschluss, sondern erst 60 Tage danach enden zu lassen – eine ununterbrochene Fortsetzung der Arbeit war damit für mehrere Abgeordnete möglich. Zugleich wurde das Abgeordnetenentschädigungsgesetz reformiert und festgelegt, dass in dem speziellen Fall auch schon sieben Jahre für Erlangung der Altersrente reichten. In Kraft trat diese Regelung am 1. Januar 1972. Diese kleine Reform bewirkte Wunder – nun stand vorgezogenen Neuwahlen 1970 nichts mehr im Wege und die nötige Zweidrittelmehrheit für die Selbstauflösung kam im Landtag zustande.

Politische Langzeitfolgen hatten die Wirren des Jahres 1970 auch. In der folgenden Landtagswahl schafften nur SPD und CDU den Weg in den Landtag, die SPD hatte ein Mandat mehr und damit die absolute Mehrheit. Nach der Wahl 1974 dann, bei der die CDU kräftig zulegte, reichte es knapp für eine SPD/FDP-Koalition. Hasselmann, der den Brandes-Plan eines konstruktiven Misstrauensvotums 1970 verhindert hatte, bekam fortan nicht mehr die geschlossene Unterstützung der CDU. Als sich 1976 nach dem Abschied von Alfred Kubel eine Chance für die CDU zeigte, verzichtete Hasselmann zugunsten des als liberal und modern wirkenden Ernst Albrecht – der daraufhin siegte, eine neue Ära der Christdemokraten begründete und sich gegenüber der FDP öffnete. (kw)