18. Dez. 2023 · 
Soziales

„Das Bürgergeld aktiviert nicht und ist bestimmt nicht epochal“

Es sollte nicht mehr diesen schlimmen Namen tragen. Wenn in den vergangenen Jahren von „Hartz IV“ die Rede war, dann erinnerte dieser Name an den Vater der zugrundeliegenden Reform. Peter Hartz, einst VW-Personalvorstand, hatte im Auftrag von Kanzler Gerhard Schröder ein paar Projekte zur Belebung des Arbeitsmarktes entworfen. Hängen blieb nur seine vierte Reform, „Hartz IV“, die war gedacht für die Menschen, die ihre Arbeit verloren hatten und mit der Reform nun schon nach einem Jahr in die Sozialhilfe rutschten. 

In manchen Kreisen wurde „Hartz IV“ zum Synonym für eine sozialdemokratisch verantwortete Politik, die Hilfsempfänger mit den Kürzungen dieser Hilfe unter Druck setzt und daher angeblich unsozial sei. Kein Wunder also, dass vor allem in der SPD auf eine Umbenennung von staatlichen Leistungen gedrängt wurde. So heißt „Hartz IV“ nun seit rund einem Jahr „Bürgergeld“, das klingt viel angenehmer.

Der Antrag für das Bürgergeld hat nur sechs Seiten. Doch die Regelungen, die dahinter stecken, haben es in sich. | Foto: Link

Das Bürgergeld-Gesetz sieht nun vor, dass auch Personen mit einem Vermögen bis zu 40.000 Euro diese Leistung beanspruchen können. Im ersten Jahr des Bezugs werden auch die Wohnkosten nicht mehr geprüft – sondern in der Höhe erstattet, wie sie vor Beginn der Sozialleistung bestanden hatten. Da es einen Fachkräftemangel gibt, sind die Hinzuverdienstgrenzen ausgeweitet worden – und es gibt bessere Angebote der Aus- und Weiterbildung für die Empfänger. Dennoch hat sich auch ein Jahr nach Einführung des neuen Bürgergeldes die Diskussion noch nicht beruhigt. Während die einen in der neuen Leistung die Abkehr vom angeblich erfolgreichen Hartz-IV-System kritisieren und von zu wenig Arbeitsanreizen sprechen, bemängeln die anderen, dass die Organisation chaotisch sei und es immer noch nicht gelinge, die Empfänger zur Aufnahme einer Beschäftigung zu motivieren. 

Vor allem die Landkreise, die für den Großteil der aktiven sozialen Leistungen zuständig sind, bemängeln weiter die kleinteiligen, bürokratischen und innovationsfeindlichen Vorgaben für die Bürgergeld-Erteilung. Zu den deutlichsten Vertretern der kommunalen Position zählt der Landrat von Verden, Peter Bohlmann (SPD), der zugleich Vorsitzender des Sozialausschusses im Niedersächsischen Landkreistag (NLT) ist. In einer längeren Ausarbeitung für den Deutschen Landkreistag hat der SPD-Politiker jetzt eine erste Jahresbilanz gezogen – und kommt zu gemischten Urteilen. So begrüßt er die besseren Bedingungen für die Qualifizierung, die sich durchaus positiv auf den Arbeitsmarkt auswirken könnten. Andere Elemente wie die höheren Vermögens- und Hinzuverdienstgrenzen hält er jedoch für problematisch, weil sie den Transferbezug attraktiver machen könnten als die Erwerbsarbeit. Die Lösung könne sein, die Empfänger des Bürgergeldes stärker zu gemeinnütziger Arbeit heranzuziehen. Der Bedarf dazu steige ständig – gerade in den aktuellen Zeiten des Arbeitskräftemangels.

Peter Bohlmann | Foto: Landkreis Verden

Empfänger, die jünger als 25 sind, werden nicht mehr zwingend zu einer Arbeitstätigkeit vermittelt – denn sie sollen vorrangig ihre Ausbildung absolvieren. Auszubildende könnten einen Gesamtbetrag (zusätzlich zu den Wohn- und Heizkosten) von 940 Euro monatlich erhalten. „Das sollte Anreiz genug sein, eine Ausbildung erfolgreich zu absolvieren“, meint Bohlmann. Ein Weiterbildungsgeld gebe es auch noch. Hier lobt der Verdener Landrat, dass ein Mangel von „Hartz IV“, nämlich die fehlenden Motivationsprämien, nun endlich auch auf Drängen der kommunalen Jobcenter korrigiert worden sei.

Kritischer bewertet Bohlmann die Festlegung der Hinzuverdienstgrenzen beim Bürgergeld. Bei einem Zuverdienst bis zu 1000 Euro könne der Empfänger 328 Euro behalten. Insgesamt lasse sich das Monatseinkommen eines Bürgergeld-Empfängers bei einer Halbtagsbeschäftigung (84 Stunden monatlich) zum Mindestlohn von 12 Euro auf 830 Euro erhöhen. Daneben würden trotz des Erwerbseinkommens noch die Wohnkosten zum größten Teil übernommen. Dazu sagt Bohlmann: „Dass der Unterschied zu einer Vollbeschäftigung in der Gehaltsklasse nicht groß ist und vor allem mit jedem weiteren Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft durch die damit ausgelösten Bürgergeldbedarfe immer kleiner wird, liegt auf der Hand.“

Der Landrat bezieht sich auch auf eine DGB-Berechnung für eine vierköpfige Familie, die bei 2368 Euro Bürgergeld monatlich landet. Zähle man nach der vom DGB angestellten Berechnung dann noch für die Erwerbstätigen Kindergeld, Kinderzuschlag und Wohngeld hinzu, verfüge die Familie über 3206 Euro Haushaltseinkommen, weshalb sich laut Gewerkschaftsbund selbstverständlich die Arbeitstätigkeit weiterhin lohnen würde. Bohlmann sieht das kritischer und rechnet vor: „Der Abstand von 838 Euro zwischen der Erwerbstätigkeit und dem Bürgergeldbezug reduziert sich aufgrund des Freibetrages von rund 330 Euro gerade mal auf 510 Euro, sobald eine Person der Bedarfsgemeinschaft nur halbtags arbeitet.“

Quelle: DGB

Mit anderen Worten: Bohlmann bezweifelt, ob der Unterschied zwischen staatlicher Sozialleistung und Erwerbstätigkeit auf niedrigem Niveau für alle groß genug ist und noch einen Anreiz bietet, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Hier sieht Bohlmann einen „gordischen Knoten“, wie er sagt, weil inflationsbedingt die Regelsätze erhöht werden müssen. Dadurch werde aber Arbeiten unattraktiver. Hinzu komme die Wirkung der höheren Vermögensfreigrenzen und der großzügige Umgang mit den Wohnkosten. Das mache den Weg in die Arbeitslosigkeit deutlich weniger unattraktiv.

Ist das ein Grund dafür, dass es immer mehr Bürgergeldempfänger in Deutschland gibt? Seit 2020, mit der Corona-Krise, wird bei den Vermögensbeständen der Betroffenen nicht mehr so genau hingeschaut, das ist auch nach der Pandemie so geblieben. Nun zeigt der Vergleich zwischen August 2022 und August 2023 bundesweit eine Steigerung um 145.000 auf 3,96 Millionen erwerbsfähige Leistungsberechtigte beim Bürgergeld in der Bundesrepublik. Von der Steigerung entfielen nur rund 80.000 auf die Ukraine-Flüchtlinge. Sie allein können also kaum den Ausschlag gegeben haben.

Ein anderes Problem ist der komplizierte Mechanismus der Sanktionen für Menschen, die sich einer Zusammenarbeit mit den Behörden verweigern. Es liegt an einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, dass 2019 die bis dahin geltenden Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger, die nicht mitwirken wollten, gekippt wurden. Die Richter verlangten, dass in solchen Fällen die Leistungskürzung maximal 30 Prozent des Regelsatzes betragen dürfe, bei Meldeversäumnissen dürfe die Kürzung höchstens 10 Prozent ausmachen. Aus den Hinweisen der Richter ist dann aber nach Bohlmanns Worten „ein bürokratisches Monster entstanden“, wie sich in der Bundesratsentscheidung zu dem Gesetz gezeigt habe. Die Leistungsminderungen wurden nicht pauschal mit 30 Prozent festgelegt, wie die Karlsruher Richter nahegelegt hatten, sondern gestaffelt nach der Zahl der Pflichtverletzungen: zehn Prozent für einen Monat, 20 Prozent für zwei und 30 Prozent für drei Monate. Festgeschrieben wurde zudem, dass neben einem sogenannten „wichtigen Grund“ für das Fehlverhalten auch immer „die besondere Härte geprüft“ werden müsse. Die Betroffenen müssten angehört werden, und die formalen Hürden dafür seien noch mal heraufgesetzt worden. Wenn der Empfänger Wohlverhalten an den Tag lege, zwinge das nach zwei Monaten zu einer Milderung der Sanktion.

Quelle: INSM

Bohlmann erläutert, dass die Praktiker vorher vor diesen bürokratischen Schwierigkeiten gewarnt hatten. Viele hätten befürchtet, mit zu viel Großzügigkeit und zu wenig Leistungsminderung bei fehlender Mitwirkung werde es nicht gelingen, die Empfänger der staatlichen Unterstützung für Qualifizierungsmaßnahmen zu motivieren. Aber die Warnungen wurden nicht gehört, das Problem sei eingetreten. Aus den Zahlen lasse sich das auch ablesen, meint der Verdener Landrat: Obwohl die Zahlen der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten gestiegen seien, habe sich zwischen Juni 2022 und Juni 2023 die Zahl der Teilnehmer an Qualifizierungs-Kursen um 25.000 auf 335.000 verringert. Noch schlimmer sei der Rückgang bei den Integrationen in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung: Zwischen Mai 2022 und Mai 2023 zählte man 5200 Vermittlungen weniger – eine Verringerung um 8,28  Prozent.

Somit liegt das wesentliche Defizit des Bürgergeldes nach Bohlmanns Einschätzung in der Vernachlässigung der „Aktivseite“, da nur auf die Höhe der Transfers und deren Zugangserleichterungen geachtet werde und nicht auf das eigentliche Ziel, Menschen zu beschäftigen, zu qualifizieren und in Arbeit zu vermitteln. Um für eine Verwendung im Arbeitsmarkt zu qualifizieren und vor allem Erwerbsarbeit wieder attraktiver gegenüber dem Bürgergeldbezug zu gestalten, sei es zwingend, gemeinnützige und öffentlich finanzierte Beschäftigung auszubauen. Diese habe nichts mit „Müllsammeln“ zu tun habe, sondern müsste sich an den sozial-ökologischen Bedarfen der Gesellschaft orientieren.

Leider habe aber die ursprüngliche Hartz-IV-Regel den zweiten Arbeitsmarkt zerstört und das Bürgergeld habe gerade hier keine Abhilfe geschaffen. So muss gemeinnützige Arbeit nach den Sozialgesetzen derzeit auch zusätzlich undwettbewerbsneutral sein. „Dadurch wird jeder innovative Beschäftigungsansatz in der sozialen Arbeit im Keim erstickt“, meint der Verdener Landrat. Hoffnung setzt Bohlmann in einem Beschluss der Ministerpräsidenten vom vergangenen November, die öffentlich finanzierte Beschäftigung gerade für Flüchtlinge forcieren zu wollen. Leider gebe es bisher aber noch keine konkreten Vorschläge zur Änderung der Gesetze mit dem Ziel, die Kriterien der Zusätzlichkeit und Wettbewerbsneutralität zu streichen. 

Quelle: IWD

Dabei seien die Reformen dringend, betont Bohlmann. Die Arbeit im ersten Arbeitsmarkt müsse über mehr Beschäftigungsangebote für Transferempfänger attraktiver werden. Das sei auch deshalb notwendig, weil es beim zweiten Reformprojekt der Ampel-Regierung, der Kindergrundsicherung, um nichts anderes als um passive Geldleistungen gehe. Ein Problem sei auch hier der Abstand zum Erwerbseinkommen, wenn die Eltern für ihre Kinder so viel Geld erhalten, dass der Anreiz zur Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit nicht mehr bestehe. Für Bohlmann steht die Kindergrundsicherung ohnehin „in der schlechtesten Hartz-IV-Tradition, weil es auch bei ihr nicht um Aktivierungen und konkrete Förderung, sondern nur um Transfers und eine Expansion der Bundesbehörden“ gehe. Es solle dafür eine neue Behörde namens „Familienservice“ entstehen, die jährliche Verwaltungskosten von 408 Millionen Euro verschlinge. „Den Bürokratieabbaupreis gewinnt die Bundesregierung damit bestimmt nicht“, meint der Landrat.

Unterm Strich ist das Urteil von Bohlmann von starker Skepsis geprägt: „Beim Bürgergeld stand die Veränderung des Namens im Vordergrund. Dieser ist aber nur Schall und Rauch und vor allem ist das Bürgergeld alles andere als epochal.“


Dieser Artikel erschien am 19.12.2023 in Ausgabe #222.
Klaus Wallbaum
AutorKlaus Wallbaum

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