Es war ein großes Abschiedsfest. Achtzig Gäste hatten sich im Garten von Christiane Lüßmann versammelt, um den Start in den Ruhestand mit ihr zu feiern. „Meine Kolleginnen sind meine zweite Familie“, sagt sie. „Die Ärzte auch. Wir sind zusammen alt geworden.“ 1978 hat sie ihre Ausbildung zur Kinderkrankenschwester in Hannover begonnen. Von Anfang an entschied sie sich für die Intensivstation für Früh- und Neugeborene. Christiane Lüßmann mag die Herausforderung. Eben noch geht alles seinen Gang, dann platzt ein Notfall dazwischen. Jetzt heißt es: Einhundert Prozent präsent sein, zu jeder Tages- und Nachtzeit. 

Christiane Lüßmann ist eigentlich Rentnerin, trotzdem arbeitet sie weiter in der Pflege. | Foto: Beelte-Altwig

Früher passierte es oft, dass sie ein Baby in Lebensgefahr mit dem Notarztwagen oder im Hubschrauber abholen und ins Kinderkrankenhaus „Auf der Bult“ bringen musste. Seit es das Perinatal-Zentrum im „Henriettenstift“ in der Landeshauptstadt gibt, ist das seltener geworden. Die Geburtshilfe ist direkt ein Stockwerk tiefer untergebracht. Im Notfall muss das Baby nicht über holprige Straßen gefahren werden, sondern wird direkt vor Ort versorgt. Neulich, erzählt Lüßmann, war sie zum zweiten Geburtstag eines Kindes eingeladen, dem sie durch seine ersten Lebenstage geholfen hatte. So etwas sind die Glücksmomente in ihrem Beruf.

Die Kolleginnen, die Herausforderungen, den Spaß an der Arbeit möchte Christiane Lüßmann auch als Rentnerin nicht missen. Deswegen macht sie weiter: Auf Minijob-Basis arbeitet sie seit August 2023 drei Tage im Monat im Perinatal-Zentrum. Während Pflegekräfte zu Tausenden dem Job den Rücken kehren, geht die 64-Jährige den umgekehrten Weg. „Ich fühle mich recht fit“, sagt sie. Obwohl – vor vier Jahren hat sie ein künstliches Kniegelenk bekommen. Auch das Rheuma macht ihr zu schaffen. „Das Stehen ist Gift für die Gelenke und den Rücken“, erklärt sie. Und stehen muss man im OP, manchmal drei Stunden lang. 2022 hat man in Nordrhein-Westfalen untersucht, wie lange Pflegekräfte in ihrem Job bleiben. In der (Kinder-)Krankenpflege sind es im Schnitt gerade mal 18 Jahre, in der Altenpflege nur 13 Jahre.

Die Rentnerin Christiane Lüßmann hingegen würde, sagt sie, gern noch mehr arbeiten. Aber die Personalabteilung konnte ihr kein flexibleres Arbeitszeitmodell anbieten. Sie ist nicht die Einzige, die im Ruhestand weitermacht: Zwei Kolleginnen, noch ein paar Jahre älter als sie, arbeiten sogar sozialversicherungspflichtig mit einem Stellenumfang von sechzig Prozent. Allerdings, berichtet Lüßmann, habe sich die eine Kollegin ziemlich gewundert, als sie den Steuerbescheid bekam. Denn der Zuverdienst zur Rente muss versteuert werden, wenn er die Minijob-Grenze übersteigt.

Bei einer dritten Kollegin war es umgekehrt: Sie wollte ihre Arbeitszeit in den letzten Berufsjahren reduzieren. Doch auch in diesem Fall fand die Personalabteilung kein Arbeitszeitmodell, mit dem sie sich anfreunden konnte.  Die Kollegin wechselte an eine andere Klinik. Hier war man hocherfreut über den Neuzugang und akzeptierte ihre Bedingungen. 

Das Fotobuch mit einem Rückblick auf 45 Berufsjahre hat Christiane Lüßmann zum Abschied bekommen. | Foto: Beelte-Altwig

Neulich war Lüßmann dann doch mehr als drei Tage im Einsatz. In der Schicht waren nur unerfahrene Kolleginnen. Auch die jungen Ärzte sind erleichtert, wenn ihnen im Notfall eine routinierte Pflegekraft zur Seite steht. In so einem Fall wird in den WhatsApp-Gruppen der Krankenschwestern herumgefragt: Wer kann einspringen? Christiane Lüßmann wollte die Kolleginnen nicht hängen lassen. „Aber ich weiß nicht, ob ich diesen Tag überhaupt bezahlt kriege“, sagt sie achselzuckend. 

In der Pflege ist man auf die Bereitschaft der Kolleginnen angewiesen, Arbeit noch obendrauf zur eigenen Belastung zu übernehmen. Wenn früher jemand plötzlich krank geworden war, wurde so lange telefoniert, bis sich ein Kollege fand, der einsprang. Heute hat man dafür WhatsApp-Gruppen. Aber das Prinzip ist immer noch das gleiche. Spontane freie Tage gibt es nicht – es sei denn, man organisiert selbst eine Vertretung. Als Christiane Lüßmann einmal zu einer Beerdigung in der Verwandtschaft musste, fand sie niemanden als Ersatzkraft. Sie schlief ein wenig im Auto und stand danach wieder für die nächste Schicht parat. 

„Wenn die Teamfairness leidet, wäre es für mich tatsächlich ein Grund, wieder dort aufzuhören.“

Bisher, sagt sie, war fast immer jemand da, der sich für das Team verantwortlich fühlte, wenn es nötig war. Doch bei den jüngeren Kolleginnen werde diese Haltung weniger. Sie wollen Schlaf nachholen oder haben den freien Tag schon verplant und sind nicht bereit, ihre Pläne zu ändern. Woanders etwas ganz Normales – aber die unterbesetzten Teams in der Pflege haben ein Problem, wenn Kolleginnen zuerst an sich selbst denken. Für die Studie „Ich pflege wieder, wenn…“ haben die Autoren ausgestiegene Fachkräfte befragt, unter welchen Bedingungen sie sich vorstellen könnten, in den Beruf zurückzukehren. Auf dem ersten Platz landete ein „fairer Umgang unter Kollegen“ – noch vor einer bedarfsgerechten Personalbemessung und der Wertschätzung von Vorgesetzen. Eine Fachkraft schrieb dazu im Fragebogen: „Wenn die Teamfairness leidet, wäre es für mich tatsächlich ein Grund, wieder dort aufzuhören. Das Problem besteht ja seit langem in der Pflege.“

„Schwester! Schwester! Bringen Sie mir mal ´ne Pampers.“

Nicht nur im Team hat sich die Stimmung verändert. Es fehle auch an Wertschätzung von manchen Eltern, sagt Christiane Lüßmann. Einmal musste sie eilig zu einem Baby. Sie erklärte dem Vater eines anderen Kindes, dass sie jetzt keine Zeit für sein Baby habe. Er könne sich aber gerne bei den Windeln bedienen. Einen Moment später hörte sie ihn schon auf dem Flur bellen: „Schwester! Schwester! Bringen Sie mir mal ´ne Pampers.“ Zu Hause könne er sein Kind ja selbst wickeln, erklärte er ihr, doch hier sei das ihr Job. 

Die Konflikte, die Arbeitszeiten, die Überstunden, die man vor sich herschiebt und niemals abbummeln kann: Angesichts dieser Rahmenbedingungen flüchten viele junge Kolleginnen gleich nach der Ausbildung wieder aus dem Job. „Höchstens die Hälfte bleibt nach dem Examen“, schätzt Lüßmann. Die älteren Kolleginnen tun dafür, was sie können. Oder wie Christiane Lüßmann sagt: „Wir pampern sie.“ Kritik wird kaum geäußert. Manche Nachwuchskräfte lassen sich durch ein berufsbegleitendes Studium oder andere Weiterbildungsmöglichkeiten im Job halten. „Aber oft bringt ihnen das nichts“, weiß Lüßmann: Weder die Arbeitsbedingungen noch das Gehalt verbessern sich mit der zusätzlichen Qualifikation.



Die Bezahlung, meint Christiane Lüßmann, sei auch nicht das Problem in ihrem Beruf. Mit ihrer Rente ist sie sehr zufrieden. „Wegen des Geldes mache ich den Minijob nicht.“ Ihr Mann, erzählt sie, hatte sich den gemeinsamen Ruhestand ein wenig anderes vorgestellt: mit spontanen Segelausflügen und endlos Zeit für die Familie. Vor ein paar Tagen sind die Lüßmanns Großeltern geworden. Der Sohn wohnt mit seiner Familie im gleichen Haus. Aber die frisch gebackene Oma möchte sich nicht auf diese Rolle beschränken. „Dafür arbeite ich zu gerne.“ Und ohne Menschen, die so ticken, würde die Pflege nicht funktionieren.