Als SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz im April, in den Hochzeiten des sogenannten Schulzzuges, im Capitol in Hannover auftrat, platzte der Saal aus allen Nähten. Am Dienstag kam nun der FDP-Vorsitzende Christian Lindner und man musste sich fragen: Gibt es eigentlich eine Steigerung von „aus allen Nähten platzen“? Im Capitol, wo sonst auch gerne getanzt wird, wäre jeder Wechselschritt eine Herausforderung gewesen. Es war voll, es war heiß, und Lindner, der auf der Bühne erst einmal sein Jackett auszog, stellte fest, es gebe eben doch den von Menschen gemachten Klimawandel – zumindest in diesem mit 1200 Besuchern gefüllten Raum.

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Die Besucher selbst ließen einen Unterschied zur SPD-Veranstaltung erkennen. Während bei Schulz manche Busse vor dem Capitol hielten, denen die Generation Butterfahrt entstieg, steht bei Lindner kein einziger Bus vor dem Veranstaltungsort. Die Generation Y ist in Scharen mit dem Auto, dem Fahrrad oder öffentlichen Verkehrsmitteln gekommen – und das in Hannover-Linden. FDP-Ergebnis bei der letzten Bundestagswahl: um die zwei Prozent. Das Durchschnittsalter der Besucher ist erstaunlich jung, die breite Mehrheit ist männlich.

Es ist ein wenig wie in Guido Westerwelles besten Zeiten, als die FDP viele junge Leute anzog, die mit dem Niedergang der Partei alle plötzlich verschwunden waren und nur noch der Kern der alten Honoratioren-Partei FDP übrig blieb. Jetzt sind die Jungen wieder da. Das ist für Lindner eine große Chance und Risiko zugleich. Denn die jüngeren Wähler sind volatiler. Und niemand kann sicher sein, dass die große Mehrheit der Besucher der Lindner-Veranstaltung am 24. September auch wirklich FDP wählt.

Da läuft bei der Behörden-Mitarbeiterin doch gerade ein Update für ihr Windows 95 auf dem Rechner. Wie schnell doch 20 Jahre schon wieder vorbei sind.

Lindner, im weißen Hemd ohne Krawatte, gibt den Besuchern am Ende Tipps für den Wahlzettel. Ein jeder solle sich prüfen, denn was man wähle, sage immer auch etwas über einen selbst aus. „Wenn Sie sich für böse und verführbar halten, dann wählen Sie CDU. Sie will den Staat als Kontrolleur“, so Lindner. „Wenn Sie sagen: Ich verstehe das alles nicht, ich bin schwach und anleitungsbedürftig, dann wählen Sie SPD, Grüne oder Linke. Die haben immer eine Zeigefinger für Sie präsent.“

FDP-Wähler hingegen seien vernünftig, verantwortungsbewusst, großzügig und tolerant. „Wenn Sie glauben und darauf vertrauen, dass Ihr Nachbar so ist wie Sie und den Staat als Partner sehen, dann wählen Sie FDP.“ Diese Tipps gibt Linder am Ende seiner Rede, nach etwa einer Stunde. Der Jubel ist laut, wer möchte nicht gerne tolerant und großzügig sein?

https://soundcloud.com/user-385595761/lindner-liberale-parteien-profitieren-von-autoritaren-bewegungen

Christian Lindner ist ein Entertainer, teilweise ein Comedian, einer, der die Bühne liebt und auf ihr zuhause ist. Manchmal erinnert er an den Kabarettisten Dieter Nuhr, der ebenfalls lacht, bevor er überhaupt den Witz gemacht hat. Ist das eigentlich noch Politik oder schon wieder zu viel Show? Zumindest agiert Lindner mit dem jungen Publikum auf Augenhöhe. „Bevor Sie überlegen, irgendetwas mit Medien zu studieren, werden Sie Stukkateurmeister. Denn alle IT-Ingenieure werden in Zukunft ihr Zuhause schön machen wollen.“ Lacher. Lindner berichtet von einem Besuch beim Berliner Bürgeramt, den er aus technischen Gründen abbrechen musste. „Da läuft bei der Behörden-Mitarbeiterin doch gerade ein Update für ihr Windows 95 auf dem Rechner. Wie schnell doch 20 Jahre schon wieder vorbei sind.“ Lacher. Johlen.

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Das alles ist Politik. Das Versagen staatlicher Behörden, unsere Zukunft in der Digitalisierung, die Entscheidung zwischen dualer Ausbildung und Studium. Aber Lindner, das wird auch nach der Rede des FDP-Landesvorsitzenden Stefan Birkner im Capitol deutlich, hat einen Vorteil. Er redet eben nicht von einer „Unterrichtsversorgung, die gewährleistet wird“. Er will eben auch unterhalten. Das macht seine Aussagen teilweise unscharf und oberflächlich. Aber es ist nicht zu bestreiten, dass er eine junge Zielgruppe erreicht, wenn er authentisch davon berichtet, was er in seiner Timeline auf Facebook gelesen hat. So mancher ältere Parteigänger dürfte sich von Lindners Auftritt im Capitol allerdings nur halbwegs angesprochen gefühlt haben.

Wir werden wieder Fehler machen. Aber wir werden nicht die alten sondern neue Fehler machen und sie schneller korrigieren.

Politikfrei ist der Auftritt natürlich nicht. Linder kritisiert die Rückständigkeit des deutschen Bildungssystems („Das Digitalste in der Schule darf nicht die Pause sein“), warnt vor einem Kaputtreden der deutschen Autoindustrie („Das Ausland lacht über uns“) und plädiert dafür, dass zu kleine Renten automatisch auf die Grundsicherung aufgestockt werden sollten (Es geht um keine großen Beträge, sondern darum, wie man in einer Gesellschaft respektvoll miteinander umgeht“). Immer wieder fährt er auch die politischen Ellenbogen aus. Das TV-Duell zwischen Merkel und Schulz sei kein Duell, sondern ein Bewerbungsgespräch gewesen. Schulz habe sich als nächster Sachbearbeiter von Merkel beworben.

Ist die FDP also nach vier Jahren Bundestags-Abstinenz wieder in der Spur? Die Partei werde nicht in eine Regierung gehen, wenn sie in einer Koalition keinen Unterschied machen könne, verspricht Lindner. „Wir haben in der Vergangenheit Fehler gemacht. Und ich schwöre: Wir werden wieder Fehler machen. Aber wir werden nicht die alten sondern neue Fehler machen und sie schneller korrigieren.“ Lacher. Jubel. Wer sogar Applaus bekommt, wenn er eigene Fehler in der Politik ankündigt, für den läuft es entweder richtig gut, oder er muss einfach ein guter Entertainer sein. (MB.)