Am kommenden Sonntag wählen die Bürger der Landeshauptstadt Hannover einen neuen Oberbürgermeister – sie entscheiden sich zwischen dem parteilosen Eckhard Scholz, der von der CDU aufgestellt wurde, und dem Grünen-Kandidaten Belit Onay. Eines der zentralen Themen im Wahlkampf war die Verkehrspolitik. Die Rundblick-Redaktion widmet sich dieser Frage in einem Pro und Contra.

Martin Brüning möchte die Verkehrswende lieber planvoll, Niklas Kleinwächter fordert den radikalen Einschnitt. – Foto: Sina Gartz

Pro: Eine Verkehrswende kann nur gelingen, wenn sie mit einem radikalen ersten Schritt beginnt. Andernfalls würden sich die Verhaltensweisen und die Strukturen nie ändern, meint Niklas Kleinwächter.

Es ist 70 Jahre her, dass Hannover zuletzt eine radikale Verkehrswende gewagt hat. Damals, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, lag Hannover in Schutt und Asche. Es war die Zeit des Wiederaufbaus, die Zeit des legendär gewordenen Stadtbaurats Rudolf Hillebrecht. Dieser hatte eine Vision, die ihn noch bis in die heutige Zeit berühmt macht: Er träumte von der „autogerechten“ Stadt. Er sah in die Zukunft und erkannte dort immer mehr Automobile, mit denen die Menschen die Stadt erobern sollten.

Als Hillebrecht seine Pläne damals vorstellte, stieß er nicht überall auf offene Ohren. Doch er setzte sich durch und breite ließ Schnell- und Hochstraßen, riesige Verkehrskreisel und U-Bahntunnel bauen. Die Stadt sollte dergestalt umgebaut werden, dass sie sich perfekt dem modernen Individualverkehr anpasste. Möglichst wenig Kreuzungen, an denen Ampeln den Verkehrsfluss lahmlegen. Möglichst keine Straßenbahnen, die den Autos in die Quere kommen.

Noch heute ist das Stadtbild Hannovers von diesen in Stein gegossenen Vorstellungen geprägt – auch wenn die Kapazitätsgrenzen längst überschritten sind und Hillebrechts Verkehrsbeschleunigungen deshalb ins Leere laufen. Für seine Stadtplanung aus der Perspektive des Autofahrers ließ der Stadtbaurat damals sogar einige der wenigen noch erhaltenen historischen Gebäude abreißen – was man ihm bis heute anlastet. Doch so waren seine Pläne eben: wie eine radikale Verkehrswende.

Die autofreie Innenstadt darf nicht erst irgendwann kommen

Nun aber, 70 Jahre nach den mutigen Schritten des Stadtbaurates, steht die Landeshauptstadt vor ähnlich großen, aber doch neuen Herausforderungen. Erneut ist es die Verkehrspolitik, die die Menschen umtreibt. Doch diesmal hat sich die Windrichtung geändert. Statt einer autogerechten Stadt fordern die einen nun eine autofreie Innenstadt, die anderen wollen einfach nur einen besser fließenden Verkehr. Egal wie.

Die Straßen sind voll, Abgase und Lärm sind nicht nur an den Hauptverkehrsstraßen ein Problem. Auch in vielen Quartieren wächst der Konkurrenzdruck zwischen einem entspannten urbanen Lebensstil – mit Raum zum Flanieren, Straßencafés und praktischen Radwegen – und einem immer krasser werdenden Autoverkehr. Der zur Verfügung stehende Platz wird knapper, auch weil die Autos immer größer werden. Die Parkplätze reichen in Anzahl, Länge und Breite nicht mehr aus, was in der Regel zulasten von Fuß- und Radwegen geht. Dazu kommen nun neue Fortbewegungsmittel wie Leih-Fahrräder oder E-Scooter, die ihren Platz im innerstädtischen Raum einfordern.

Die autofreie Innenstadt darf nicht irgendwann kommen, sie muss jetzt eingeführt werden. Sie sollte nicht am Ende einer Verkehrswende stehen, sondern ihren Anfangspunkt markieren.

Was Hannovers Stadtplanung jetzt braucht, ist die nächste radikale Verkehrswende. Die autofreie Innenstadt darf nicht irgendwann kommen, sie muss jetzt eingeführt werden. Sie sollte nicht am Ende einer Verkehrswende stehen, sondern ihren Anfangspunkt markieren. Denn erst durch diesen radikalen Schritt würde Raum für eine nachhaltige Veränderungen geschaffen.

So würde beispielsweise erst durch eine stetige Ausweitung autofreier Zonen in der Bevölkerung der entsprechende Druck entstehen, die Bus- und Bahnangebote stärker zu nutzen. Denn mit dem eigenen Auto zu fahren, ist für die meisten vermutlich noch immer bequemer, als eine Bahn mit vielen Fremden zu teilen. Die zunehmende Verdichtung des innerstädtischen Verkehrs erlaubt in Zukunft aber keinen unbegrenzten Individualverkehr mehr – irgendwann ist Schluss, und irgendwann ist dann vielleicht jetzt.

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Gleichzeitig würde erst der Rückgewinn von autofreien Flächen – Schritt für Schritt auch jenseits der City – kürzere Abstände in den Abfahrtzeiten von Bussen und Bahnen erlauben und diesen damit leistungsfähiger und attraktiver machen. Denn wie sollte etwa die Taktung auf einer Stadtbahnlinie erhöht werden, wenn sie oberirdisch weiterhin mit dem Straßenverkehr in Einklang gebracht werden muss? Einfacher wäre es, wenn die Ballung verschiedener Verkehrsträger aufgelöst würde.

Zuerst muss das Auto verschwinden, dann bekommen die Alternativen freie Fahrt.

Und schließlich würde erst durch weniger Autos das innerstädtische Fahrradfahren so sicher und angenehm gemacht, dass es auch tatsächlich zu einer Alternative für einen größeren Teil der Bevölkerung würde. Allen rot lackierten Radüberwegen an schlecht einsehbaren Kreuzzungen und jeder Fahrradstraße zum Trotz: Das dominante Verkehrsmittel ist und bleibt das Auto. Im Zweifelsfall würde der Rad- oder Rollerfahrer immer den Kürzeren ziehen. Zuerst muss das Auto verschwinden, dann bekommen die Alternativen freie Fahrt.

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Contra: Eine Verkehrswende in der Stadt kann gar nicht radikal sein, weil die über Jahrzehnte erlernten und gewachsenen Verkehrsflüsse nicht von heute auf morgen gestoppt werden können. Wer sich aber die City mit einem sinnvollen Plan und etappenweise für den Autoverkehr sperrt, wird mittelfristig auch Zweifler überzeugen, meint Martin Brüning.

Man muss sich nicht zwingend am Freitagnachmittag oder Sonnabendmittag bewegen, um in der hannoverschen City festzustellen, dass der Autoverkehr in dieser Innenstadt an seine Grenzen gekommen ist. Nicht nur die Zahl der Autos, auch die Entscheidungen ihrer Besitzer, diese für die Fahrt in die City auch zu nutzen, haben in den vergangenen Jahren stärker zugenommen als die Möglichkeiten der vorhandenen Infrastruktur.

Wer behauptet, es bereite Freude, in der Innenstadt zum Beispiel rund um Bahnhof und Oper mit dem Auto zu fahren, hat entweder Spaß an skurrilen Freizeitbeschäftigungen oder gehört zu den größten Autofans, die die Landeshauptstadt zu bieten hat. Sprechen die dutzenden Schulterblicke, das filigrane Umkurven von Fußgängern, Fahrradfahrern und Bussen und das Millimeter-Einfädeln in zu kleine Parklücken nicht für eine Verkehrswende? Am besten radikal und sofort?

Wer Menschen in und vor allem auch um Hannover dazu bewegen möchte, auf andere Verkehrsmittel umzusteigen, muss zunächst einmal die Alternativen stärken.

Glaubt man einer Forsa-Umfrage, so sind in der Landeshauptstadt 54 Prozent gegen die autofreie Innenstadt, selbst unter den Wählern der Grünen kann sich mehr als ein Viertel nicht für diese Idee erwärmen. Dabei gibt es für diese Idee gute Gründe. Mehr Raum für Fußgänger, mehr Sicherheit für Radfahrer, Erlebnis-Shopping ohne Beinahezusammenstöße und nie mehr Stress in Parkhäusern, in denen Autos aus den 2000ern mit den Parklücken für Fahrzeuge aus den 60ern nicht mehr so recht zusammenpassen wollen.

Die Sorge, die viele Skeptiker umtreibt, dürfte eher in den Erfahrungen vergangener Jahre liegen, in denen Politik immer wieder gut gemeinte Entscheidungen getroffen hat, ohne das Gesamte und die Folgen im Blick zu haben. Schlagbäume runter und fertig ist die autofreie Innenstadt – dieses Konzept wird nicht funktionieren. Das hat allerdings auch niemand vor, insofern sind die Ergebnisse der Umfrage wie eine Antwort auf eine Frage, die nie jemand gestellt hat.

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Eine Verkehrswende in der Stadt kann gar nicht radikal sein, weil die über Jahrzehnte erlernten und gewachsenen Verkehrsflüsse nicht von heute auf morgen gestoppt werden können. Wer Menschen in und vor allem auch um Hannover dazu bewegen möchte, auf andere Verkehrsmittel umzusteigen, muss zunächst einmal die Alternativen stärken. Dabei geht es nicht nur um die Stadt selbst, es wird auch ein enges Zusammenspiel zwischen Stadt und Region nötig sein. Wer einmal im Auto sitzt, fährt verständlicherweise gerne bis zur City durch.

Umsteigen ist mühsam, aber genau das muss schmackhaft gemacht werden.

Umsteigen ist mühsam, aber genau das muss schmackhaft gemacht werden. Hier braucht es Pläne und den entsprechenden Parkraum, um die Wochenend-Shopper zu überzeugen. Mehr Busse und Bahnen, einfache Zahlsysteme, am besten auf dem Smartphone, neue und sichere Radwege, vielleicht auch bezahlbare Sammeltaxis, die Kunden bis an ausgewählte Punkte außerhalb des autofreien Stadtrings bringen – all das gehört zu einer Verkehrswende dazu und muss parallel zur autofreien Innenstadt geplant und umgesetzt werden. Daran sieht man bereits: Die autofreie City kommt auch in Hannover nicht im Jahr 2020.

Paradox ist, dass einer anderen Umfrage zufolge mehr als 60 Prozent der Deutschen autofreie Innenstädte bevorzugen würden. Ist es nur ein allgemeiner Wunsch, der an seine Grenzen stößt, sobald es um die eigene Innenstadt und das eigene Auto geht? Geht es sozusagen statt um Nimby (Not in my backyard) in diesem Fall um Nimcy (Not in my city)?

Die Skepsis vor Veränderungen vor der eigenen Haustür spricht ebenfalls dafür, die Wende nicht radikal, sondern Schritt für Schritt anzugehen. Mit der Zeit werden auch Zweifler feststellen, dass eine autofreie Innenstadt nicht gänzlich autofrei sein wird. Nicht nur diejenigen, die dort arbeiten und zu ihrem Parkplatz kommen müssen, werden noch dort fahren können. Auch der Lieferverkehr wird nicht gänzlich ausgesperrt werden können.

Zugleich wird neuer Platz geschaffen für Parks, Bänke, die zum Verweilen einladen, sichere und breite Radwege. Kurzum: wir bekommen mehr Lebensqualität. Wenn Hannover statt einer radikalen eine sinnhafte und etappenweise Verkehrswende schafft, wird es in der City endlich wieder die Möglichkeit der radikalsten Form des Spaziergangs geben: das Flanieren.

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