Prof. Wolfgang Reinbold, Beauftragter für Interreligiösen Dialog bei der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, spricht mit der Rundblick-Redaktion über die Auswirkungen des Nahost-Konflikts auf den Zusammenhalt in Deutschland. | Foto: Link

Wolfgang Reinbold ist Professor für Neues Testament an der Universität Göttingen und Beauftragter für Interreligiösen Dialog der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. Außerdem ist er erster Vorsitzender vom Trägerverein des „Hauses der Religionen“ in Hannover. Im Rundblick-Interview erklärt er, warum der Nahost-Konflikt nicht in erster Linie ein religiöser Konflikt ist. Er meint: Nicht nur Religionsvertreter, sondern die gesamte Gesellschaft und insbesondere Lehrkräfte müssten in die Lage versetzt werden, darüber zu sprechen.

Rundblick: Prof. Reinbold, am Montag jährt sich der Überfall der Hamas-Terroristen auf Israel zum ersten Mal. Der Nahost-Konflikt eskaliert seitdem beinahe täglich aufs Neue. Handelt es sich aus Ihrer Sicht dabei eigentlich um einen religiösen Konflikt?

Prof. Reinbold: Das lässt sich nicht mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten. Wenn Sie mich dazu zwingen, eine der beiden Antworten zu wählen, sage ich: Nein. Denn die politischen Aspekte sind von größerer Bedeutung als die religiösen. Der Konflikt entstand, weil Ende des 19. Jahrhunderts in Mitteleuropa der Antisemitismus grassierte. So kam Theodor Herzl, der Begründer des Zionismus, im Wien der 1890er Jahre zu der Feststellung: Ein sicheres, gleichberechtigtes Leben ist für uns Juden hier unmöglich; auch wir brauchen einen eigenen Staat. Aus dieser These entstand die zionistische Bewegung, die ein halbes Jahrhundert später zur Gründung eines jüdischen Staates führte, und zwar in dem Gebiet, in dem Juden seit alter Zeit gelebt hatten. Das aber war zu Beginn alles andere als ausgemacht. Herzl diskutiert in seinem Buch „Der Judenstaat“ vielmehr ausführlich die Frage, welche Gebiete für diesen Staat in Frage kommen könnten. Am Anfang des Konflikts steht keine religiöse Idee, sondern die politische Vision eines Staates, in dem Juden frei und sicher leben können.

„Am Anfang des Konflikts steht keine religiöse Idee, sondern die politische Vision eines Staates, in dem Juden frei und sicher leben können.“

Rundblick: Die Religion mag nicht am Anfang gestanden haben, aber der Konflikt wurde dann doch mit einem religiösen Überbau versehen?

Prof. Reinbold: In gewissen Milieus ist das heute so, gewiss. Aber auch nach der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 spielte die Religion keineswegs die entscheidende Rolle im Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Sehr viele Terroranschläge gab es bekanntlich in den 1970er Jahren. Die Terroristen, die sie verübten, waren in der Regel keine Islamisten. Viele waren ihrem Selbstverständnis nach Sozialisten, und oft waren es Christen. Denken Sie exemplarisch an die Gruppe, die 1977 die Lufthansa-Maschine „Landshut“ entführte. Gruppen wie die dezidiert islamistische Hamas entstanden erst später, vom sogenannten „Islamischen Staat“ nicht zu reden. Heute wird der Terror gegen Israel und „die Juden“ in der Tat oft mit der Religion begründet, so dass der Eindruck entstehen kann, der Islam habe von Haus aus eine antisemitische, für Juden potenziell tödliche DNA. Das aber ist nicht der Fall. Das Urheberrecht am Konzept des sogenannten „eliminatorischen Antisemitismus“ haben nicht die Muslime, auch nicht die Hamas, sondern die Nazis. Sie haben es erfunden – und dann gezielt in den Nahen Osten exportiert, etwa über den berüchtigten Kurzwellensender in Zeesen bei Berlin, der zwischen 1939 und 1945 in arabischer und persischer Sprache sendete. Die Spuren dieses radikalen Judenhasses sind in Palästina heute mit Händen zu greifen, etwa in der Charta der Hamas.

Lehrer müssen in die Lage versetzt werden, im Klassenzimmer über den Nahost-Konflikt zu sprechen, meint Prof. Reinbold. | Foto: Link

Rundblick: In der Beschreibung des Nahost-Konflikts ist immer wieder auch vom „Heiligen Land“ die Rede, in der öffentlichen Wahrnehmung werden die religiösen Motive häufig bemüht.

Prof. Reinbold: Auch hier müssen wir genau hinsehen. Der Begriff „Heiliges Land“ wird zuerst und vor allem von Christen verwendet, insbesondere von den Franziskanern, unter deren Wächterschaft viele christliche Stätten in Jerusalem und am See Genezaret bis heute stehen. Jüdisch und muslimisch ist diese Bezeichnung traditionell unüblich. Tatsächlich ist schon die Frage, wie das Land bezeichnet wird, eine hochpolitische Frage, und das nicht erst seit heute. Die Römer nannten die Region einst „Judaea“. Doch als die Judäer beziehungsweise „Juden“ mehrfach gegen die römische Besatzung revoltierten, änderten sie den Namen und nannten die Gegend fortan „Syria-Palaestina“. Das zeigt, wie politisch die Namensfrage schon vor 2000 Jahren war.

„Die Muslime werden herausgefordert, sich zu positionieren – und scheitern daran mitunter spektakulär.“

Rundblick: Auch wenn der Ursprung des Nahost-Konflikts also eher politischer Natur war, erleben wir ihn hier als religiösen Konflikt. In der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung sind es vielfach die Repräsentanten von Glaubensgemeinschaften, die zu Wort kommen.

Prof. Reinbold: Das hat damit zu tun, dass der Konflikt Auswirkungen auf die Glaubensgemeinschaften in Deutschland hat. Die Muslime werden durch die islamisch beziehungsweise islamistisch begründete Gewalt herausgefordert, sich zu positionieren – und scheitern daran mitunter spektakulär. Denken Sie nur an die ersten Reaktionen der türkeinahen Verbände nach dem 7. Oktober. Die Juden wiederum werden oft so behandelt, als seien sie Bürger des Staates Israel und irgendwie mitverantwortlich für die Politik der Regierung Netanyahu. Dabei haben die meisten mit Israel wenig oder gar nichts zu tun, und sehr viele wünschten sich eine andere Politik in Israel, insbesondere was den Einfluss der religiösen Rechten anbetrifft. Es ist wichtig, dass wir hier genau hinsehen und die Ebenen nicht vermischen.

Rundblick: Wie ist es ein Jahr nach dem 7. Oktober 2023 um den interreligiösen Dialog im Land bestellt?

Prof. Reinbold: Es gibt gewaltige Spannungen bis hin zu Friktionen in der interreligiösen Zusammenarbeit. Einige Kooperationen wurden beendet, manche reden nicht mehr miteinander – auch in Niedersachsen. In Hannover ist ein Vertreter aus dem Rat der Religionen zurückgetreten.

Prof. Reinbold fordert im Rundblick-Gespräch eine Kultur der Vielfalt auf der Basis unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. | Foto: Link

Rundblick: Kann die junge Generation lernen, es besser zu machen?

Prof. Reinbold: Das „Haus der Religionen“ in Hannover ist gerade dabei, ein Fortbildungskonzept für Lehrkräfte zu entwickeln, das gemeinsam mit dem Kultusministerium umgesetzt werden soll. Es geht um den Umgang mit dem 7. Oktober und grundsätzlich mit globalen Konflikten im Klassenzimmer. Wir erleben, dass der Nahost-Konflikt viele Lehrkräfte überfordert und dass sie deshalb versuchen, das Thema aus dem Klassenzimmer herauszuhalten. Das Projekt möchte dem entgegenwirken und Lehrkräfte in die Lage versetzen, damit in angemessener Weise umzugehen. Ein zweites wichtiges Thema ist die Medienkompetenz. Wir sehen zurzeit viel Propaganda, Fake-News und sogar Fake-Videos und andere Formen der Desinformation in den Sozialen Medien. Nicht selten stehen dahinter Interessen von Staaten und Organisationen, die unserem Gemeinwesen schaden wollen. Dem müssen wir uns als Gesellschaft mit ganzer Kraft entgegenstellen.

Rundblick: Sehen Sie diese Aufgabe vorrangig im Religionsunterricht angesiedelt?

Prof. Reinbold: Ich denke dabei nicht nur an Religionslehrer, sondern letztlich an alle Lehrkräfte. Im Ernstfall muss auch die Mathelehrerin in der Lage sein, zu reagieren. Niemand sollte sich in diesen Dingen schlechthin unzuständig fühlen. Wichtig ist auch eine Grundbildung in religiöser Vielfalt. Die gibt es bislang kaum, weil Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten nicht vielfältig gewesen ist. Bis in die 1990er Jahre hinein war unser Land evangelisch/katholisch. Danach erst begann eine Phase, in der wir gemerkt haben, dass sich etwas verändert, zuerst in den Kindergärten und den Schulen. Heute ist die Präsenz von Muslimen, Jesiden, Aleviten und so weiter ganz selbstverständlich. Ein ganz einfaches Instrument, mit dieser religiösen Vielfalt angemessen umzugehen, ist die Rücksichtnahme auf die religiösen Feiertage: Bedenkt den Ramadan, schreibt keine Klassenarbeit an Jom Kippur! Auf diese Weise kann auch der Mathelehrer etwas zu dem beitragen, das ich gern „Verfassungskultur“ nenne: eine Kultur der Vielfalt auf der Basis unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

Rundblick: Unser Religionsverständnis ist eher liberal geprägt, während international ein religiöser Fundamentalismus auf dem Vormarsch scheint. Können wir die politischen Konflikte, die daraus entstanden, überhaupt begreifen?

Prof. Reinbold: In der Tat scheint der Trend auch in den Religionen zurzeit vielerorts nach rechts zu gehen. Das betrifft auch das Christentum. Denken Sie nur an bestimmte Formen evangelischen Christentums in den USA, in denen Islamhass, Verschwörungstheorien und aggressiv-militante politische Konzepte ganz normal sind. Oder schauen Sie auf die Russisch-Orthodoxe Kirche, die kürzlich den Krieg gegen die Ukraine zum „heiligen Krieg“ erklärt hat. Das sind höchst irritierende und teils gefährliche Entwicklungen, deren Auswirkungen auch bei uns zu spüren sind. Wir sollten sie sorgfältig analysieren und uns ihnen mit ganzer Kraft entgegenstellen, in einer gemeinsamen Anstrengung auf der Grundlage der Werte und Ziele unserer Verfassung.