12. Okt. 2025 · 
InterviewBildung

„Beim Ganztagsausbau werden Schulleitungen zwischen Schulträger und Land aufgerieben“

Der neue Ganztagsanspruch fordert die Schulleitungen massiv heraus. Außerdem berichtet SLVN-Chef Matthias Aschern von Kampagnen gegen Lehrer und über mangelhafte Stellenplanung.

Matthias Aschern (55) ist neuer Vorsitzende des Schulleitungsverbands Niedersachsen (SLVN). Im Rundblick-Interview benennt der Schulleiter der IGS Roderbruch (Hannover) Unklarheiten beim Ganztagsausbau, beklagt fehlenden Rechtsbeistand für Schulleitungen und Lehrkräfte, plädiert für Deregulierung bei der Verteilung von Planstellen und äußert sich zur Qualifizierung von Schulleiterinnen und Schulleitern.

Foto: Kleinwächter

Rundblick: Herr Aschern, wir sprechen eine Woche nach Ihrer Wahl zum neuen SLVN-Vorsitzenden. Wie waren Ihre ersten Tage im Amt?

Aschern: Mein Telefon läuft heiß. Es gibt jede Menge Kontaktanfragen aus anderen Verbänden, Parteien und aus den zuständigen Behörden. Und wir bekommen täglich Post von unseren Mitgliedern, die auf Missstände hinweisen.

Rundblick: Welche Themen treiben ihre Mitglieder um?

Aschern: Ganz oben auf der Agenda stehen die Vorbereitungen für den neuen Ganztagsanspruchs in Jahrgang 1, der für 2026 geplant ist. Viele Schulleitungen schildern uns, wie sie aktuell zerrieben werden zwischen den Erwartungen des Landes auf der einen Seite und den Anfragen der Schulträger auf der anderen Seite. Manche Schulträger setzen enge Termine für die Vorlage von Konzepten und erzwingen Gremienbeschlüsse der Schule. Wir sehen als Verband noch viele offene Fragen. Zum Beispiel ist uns nicht klar, wo die zusätzliche Zeit für uns Leitungskräfte herkommen soll. Das hat auch etwas mit Präsenz in der Schule zu tun. Außerdem fehlt das Personal für qualitative angemessene Angebote. Mit einer Zuweisung von Sollstunden nach einem reduzierten Faktor ist es nicht getan. Wie soll die Ferienbetreuung gewährleistet werden? Welche neuen vergaberechtlichen Probleme entstehen? Viele Schulen überschreiten die 100.000-Euro-Grenze bei Kooperationsverträgen. Der Gebäudebedarf wächst, wir müssen ein Mittagsessen anbieten und auch die Anforderungen an Schulhausmeister und das Sekretariat wachsen. All diese Fragen müssen dringend geklärt werden. Hierzu werden wir zeitnah das Gespräch mit der Ministerin suchen.

Rundblick: Sie sehen den Ausbau des Ganztags also skeptisch?

Aschern: Ich bin davon überzeugt, dass im Ganztagsangebot eine Antwort auf viele Herausforderungen unserer aktuellen Zeit steckt: Wie fördern wir unsere Kinder bestmöglich? Wie kommen wir zu einer Rhythmisierung der schulischen Abläufe? Wie geht Gemeinschaftsbildung in einer erodierenden Demokratie? Damit das gelingt, müssen wir aber mehr über Bildung als über Betreuung sprechen. Absehbar ist, dass wir mit dem aktuellen Vorgehen zugunsten der Quantität die Qualität verdünnen.

Rundblick: Auf Ihrer Verbandstagung wurde von einer Klagewelle gegen Schulleitungen berichtet und über fehlenden Rechtsschutz geklagt. Was ist da los?

Aschern: Es gibt auf der einen Seite politisch motivierte Attacken aus Richtung der AfD. Wenn Schulleitungen ihrem Auftrag nachkommen und beispielsweise Programme für Demokratie, Diversität und Pluralismus an ihren Schulen auflegen, werden sie gezielt angegangen. Es kommt auch erneut zu Diffamierungen einzelner Menschen über Meldeportale. Auf der anderen Seite beobachten wir auch eine gesellschaftliche Verrohung, die wir auf eine eskalierende Individualisierung zurückführen. Diese Tendenz haben wir lange befördert, indem wir alles möglich gemacht haben. Ich denke da beispielhaft an flexible Abholzeiten im Ganztag, die didaktisch überhaupt nicht sinnvoll sind. Ich vermute, dass diese Entwicklung bei vielen Eltern zu einer Anspruchshaltung geführt hat, die inzwischen schnell beim Anwalt endet.

Rundblick: Wie wollen Sie darauf reagieren?

Aschern: Wir werden diese Gesamttendenz nicht schnell ändern können. Fest steht aber, dass wir dringend an das Thema ranmüssen. Mir sind zig derartige Fälle bekannt, in denen Schulleitungen persönlich zur Rechenschaft gezogen werden und dann ganz allein damit dastehen. Als SLVN haben wir konkrete Forderungen an die Politik: Wir brauchen Beratung, Rechtsbeistand und Haftung für Schulleitungen immer dann, wenn sie selbst einem Straf- oder Disziplinarverfahren ausgesetzt sind oder wenn sie in Ausübung ihres Amtes Opfer einer Straftat werden. Aus Gesprächen mit den Regionalen Landesämtern für Schule und Bildung (RLSB) sowie mit dem Kultusministerium wissen wir, dass es für Behörden nicht so einfach möglich ist, Beamten einen Rechtsbeistand zu leisten. Das ist bei Polizeibeamten übrigens genauso. Dort sind es allerdings die starken Polizeigewerkschaften, die vieles abfangen. Für Lehrkräfte, die nicht Mitglied einer Gewerkschaft sind, entsteht dabei ein Vakuum. Wir schlagen deshalb vor, im Kultusministerium eine Hotline einzurichten, über die Schulleitungen und Lehrkräfte eine Juristin oder einen Juristen als Ansprechpartner finden. Zweitens möchten wir im Kultusministerium eine „Stabsstelle Rechtsberatung für Schulleitungen“ einrichten, die an der Ministerialbürokratie vorbei unkompliziert agieren kann. Ein Vorbild dafür findet man in Mecklenburg-Vorpommern.

Foto: Kleinwächter

Rundblick: Ganz Niedersachsen hat ein Problem mit der schlechten Unterrichtsversorgung, aber manche Regionen sind stärker belastet als andere. Funktioniert das Verfahren der Stellenbesetzung, so wie es das Kultusministerium angeht?

Aschern: Das Kultusministerium versucht mit einer starken Regulierung der Planstellen neue Lehrkräfte vor allem an schlecht versorgte Schulen zu lotsen. Wenn ich mir das Ergebnis anschaue, muss ich aber feststellen: Durch das Management des Mangels gelingt es nicht, die gravierenden Ungleichheiten zwischen den Städten und den ländlichen Regionen auszugleichen. Auch ein Ausgleich zwischen den Schulformen gelingt nicht. Die Unterrichtsversorgung am Gymnasium ist immer noch drei bis vier Prozentpunkte besser als an den Gesamtschulen. Die Kultusverwaltung argumentiert in diesem Fall damit, dass an den Gymnasien im Gegensatz zu den Gesamtschulen fast nur Basisunterricht erteilt werde. Es ist also eine bewusste Entscheidung, eher nicht beim Pflichtunterricht zu kürzen, sondern lieber bei der Inklusion oder dem Ganztag. Damit wird die Chancenungleichheit in unserem Land weiter verfestigt. Angewiesen auf Ganztagsbetreuung und inklusive Pädagogik sind vor allem die gesellschaftlichen Gruppen, die ohnehin unterprivilegiert sind – Alleinerziehende, Menschen mit geringem Einkommen, Menschen mit Behinderung, Familien mit Migrationsgeschichte.

Foto zeigt neuen LSVN-Vorstand
Der neue SLVN-Vorstand (v. l.): Matthias Aschern, Katja Tank, Jan Pössel, Gregor Ceylan | Foto: Mölling

Rundblick: Haben Sie eine Idee, wie die Stellenbesetzung besser gelingen kann?

Aschern: Meine Privatmeinung dazu ist, dass die Kultusverwaltung besser auf De-Regulierung setzen sollte, statt immer kleinteiliger und mit hartem Druck vorzugehen. Tritt das RLSB zu rigoros auf, sind die angehenden Lehrer schnell weg. Das erste Ziel muss es aber sein, neue Lehrkräfte im Land zu binden. Dazu gab es in der Vergangenheit einmal einen mutigen Vorstoß: Da hat das Kultusministerium in einem Einstellungsverfahren einmal die Planstellen nicht nach Bedarf, sondern nach Lehrkräfteangebot verteilt. Wer eine Lehrkraft an seiner Schule hatte, die „unterschriftsreif“ war, konnte sofort einen Vertrag bieten. Dass dadurch womöglich eine Überversorgung entstand und deshalb Abordnungen folgen konnten, war ein Problem für später. Das Beste wäre, Anreizsysteme zu schaffen und die Arbeitsbedingungen an Schulen zu verbessern.

Rundblick: Im Mai hat der SLVN die Zusammenarbeit mit dem NLQ und dem Kultusministerium im Bereich der Schulleitungsqualifizierung beendet. Wieso?

Aschern: Seit einigen Jahren wird an einer Neuauflage des Qualifizierungsprogramms für Schulleitungen gearbeitet. Für uns hat sich das in eine falsche Richtung entwickelt. Vorrangig aus Kostengründen hat man die Anzahl der Präsenztage verringert und setzt jetzt stark auf digitale Veranstaltungen oder Selbstlernformate. Dabei geht es doch auch um Netzwerkbildung und persönliche Kompetenzen. Das gelingt nicht am Bildschirm. Das bisherige Qualifizierungsprogramm des Landes ist uns insgesamt viel zu klein gedacht. Beim Schulleitungsverband schwebt uns eine Führungsakademie vor. Die Qualifizierung von Schulleiterinnen und Schulleitern sollte zeitlich früher ansetzen und inhaltlich überarbeitet werden, um die wirklichen Herausforderungen abzubilden. Unsere Gespräche mit dem MK und dem NLQ in diesem Bereich waren jedenfalls in der Vergangenheit ergebnislos.

  • Zur Person: Matthias Aschern arbeitete zunächst als Lehrer für Deutsch und Geschichte am Gymnasium in Buchholz in der Nordheide, bevor er Schulentwicklungsberater wurde. Anschließend leitete er die Planungsgruppe der IGS Winsen-Roydorf (Kreis Harburg) und wurde schließlich deren Schulleiter. Später führte ihn sein beruflicher Weg nach Hildesheim zum Niedersächsischen Landesinstitut für schulische Qualitätsentwicklung (NLQ), wo er die Abteilung für Evaluation und Schulinspektion leitete. Seit vier Jahren ist Aschern nun Schulleiter der IGS Roderbruch (Hannover).
Dieser Artikel erschien am 13.10.2025 in Ausgabe #179.
Niklas Kleinwächter
AutorNiklas Kleinwächter

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