„Behördenversagen“: Schwere Vorwürfe nach Anschlag mit Gullydeckel auf Autofahrer
Nach einem Gullydeckel-Wurf eines offenbar psychisch gestörten Täters auf die Autobahn 7 bei Hildesheim stehen Landkreis und Justiz in der Kritik. Bei der Tat am vergangenen Sonnabend waren zwei Menschen schwer verletzt worden, der Täter ist ein 50-Jähriger aus dem Kreis Hildesheim. Marcel Litfin, Bürgermeister der Gemeinde Harsum (Kreis Hildesheim), spricht in diesem Zusammenhang von „Staatsversagen“. Obwohl der mutmaßliche Täter in Harsum seit Jahren für Angst und Schrecken sorge, hätten die zuständigen Behörden nicht reagiert. Am 10. August habe Litfin den sozialpsychiatrischen Dienst in Hildesheim sogar ausdrücklich auf den 50-Jährigen hingewiesen und ein Gutachten weitergeleitet, das vom Betreuungsgericht in Auftrag gegeben worden war.
„Ich habe das tagesaktuell an den Landkreis weitergeleitet. Wichtigkeit hoch“, sagt Litfin im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick. Die Behörde habe aber erst am vergangenen Freitag reagiert und ihm mitgeteilt, dass er sich an das Betreuungsgericht oder die Staatsanwaltschaft wenden müsse. In der Nacht darauf kam es zu dem Anschlag auf der A7, bei dem der Mann mit einem Gullydeckel von einer Autobahnbrücke herab die Windschutzscheibe eines Autos zertrümmerte. Der Fahrer (52) wurde schwer, seine Beifahrerin (43) sogar lebensgefährlich verletzt. Als mutmaßlichen Täter nahm die Polizei wenig später den 50-Jährigen fest. Eine Mordkommission ermittelt.
„Als ich davon gehört habe, habe ich gleich seine Handschrift erkannt“, sagt Litfin. Obwohl der Gemeindebürgermeister schon selbst von dem 50-Jährigen mit dem Tod bedroht worden sei, habe ihn die besondere Brutalität der Tat erschüttert, die laut seiner Einschätzung hätte verhindert werden können. „Der Herr beschäftigt unser Verwaltungspersonal sehr intensiv. Er ist dafür bekannt, dass er Barrieren aufbaut und damit in den Straßenverkehr eingreift“, berichtet Litfin. Der Harsumer Bauhof sei morgens zwischen 4.30 und 6 Uhr regelmäßig damit beschäftigt gewesen, die illegalen Verkehrshindernisse wieder abzuräumen.
„Er hat mir gedroht, mit einem Vorschlaghammer den Kopf einzuschlagen.“
Zudem habe der 50-Jährige auch Fahrräder sowie Gullydeckel gestohlen, Sachbeschädigungen begangen und seinen Müll zusammen mit eigenen Exkrementen in Gelben Säcken in Harsum verteilt. Einer der Adressaten war auch der Gemeindebürgermeister, den der 50-Jährige offenbar besonders auf den Kieker hat. „Er hat mir gedroht, mit einem Vorschlaghammer den Kopf einzuschlagen“, schildert Litfin eine Begegnung mit dem Mann vom 3. Juni dieses Jahres. Die Polizei habe auf diese Bedrohung „vorbildlich“ reagiert, lobt der Bürgermeister. Von der Staatsanwaltschaft habe er dann aber nichts mehr dazu gehört. „Ich würde mir allgemein wünschen, dass in solchen Fällen bei der Judikative mehr passiert. Sobald so ein Fall an die Staatsanwaltschaft abgegeben wurde, müssten die Mühlen schneller mahlen – und zwar mit einer besonderen Härte“, sagt Litfin, der seit 2016 im Rathaus sitzt und seitdem eine immer stärkere Verrohung der Gesellschaft und immer mehr Gewalt und Drohungen gegen Amtsträger beobachtet. „Das geht hin bis zu Morddrohungen.“
Der 50-Jährige ist offenbar auch für mehrere Bombendrohungen in Hildesheim verantwortlich. Am 31. März musste seinetwegen das Amtsgericht geräumt werden, am 11. April die Kreisverwaltung. Außerdem sprach er der Einrichtung, die ihn betreut, eine Bombendrohung aufs Band, was der Polizei die Ermittlungen erheblich vereinfachte. In wenigen Wochen sollte der Prozess gegen den 50-Jährigen wegen der Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten anlaufen. „Mich wundert es, dass in solchen Fällen nicht eine Untersuchungshaft bis zum Verhandlungsbeginn angeordnet wird“, sagt Litfin. Ob es sich dabei um eine Gesetzeslücke handelt oder um eine bewusste Entscheidung von Staatsanwaltschaft, bleibt unklar. Die Behörde sah sich gestern außer Stande bis Redaktionsschluss auf eine entsprechende Rundblick-Anfrage zu antworten.
So hat sich das Thema weiter entwickelt:
Bürgermeister fordert nach Gullydeckel-Anschlag eine Verschärfung des Psychiatriegesetzes
Laut Stefan Kumme vom Landgericht Hildesheim gab es darüber hinaus keine rechtliche Handhabe, um den 50-Jährigen in eine geschlossene Anstalt einzuweisen. „Es gab keinen Antrag des Landkreises“, stellt Kumme klar. Die Voraussetzungen für eine solche Einweisungen seien allerdings auch hoch. Im aktuellen Fall hätte es beispielsweise keine Hinweise auf eine Selbstgefährdung gegeben und auch eine Fremdgefährdung hätte genau geprüft werden müssen. Laut dem „Niedersächsischen Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke (NPsychKG)“ müsse vor einer Zwangseinweisung eine „gegenwärtige erhebliche Gefahr“ von dem Betroffenen ausgehen, erläutert Kumme. Eine reine Drohung sei dabei nicht ausreichend.
Zudem bestätigt Kumme, dass der 50-Jährige nicht mehr unter Betreuung war. „Das Betreuungsverfahren ist im Juli beendet worden“, sagt Kumme. Die Betreuung habe allerdings auch nicht das Ziel, den Betroffenen zu kontrollieren, sondern ihm Hilfe anzubieten. Der Widerstand des 50-Jährigen gegen diese Versuche sei auch der Grund gewesen, warum das Verfahren nicht verlängert wurde. Der Landkreis Hildesheim äußerte sich gestern nicht zu einer Anfrage des Politikjournals Rundblick, ob der sozialpsychiatrische Dienst des Kreises seine Handlungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft oder die Lage falsch eingeschätzt hat. Für Litfin ist es völlig unverständlich, dass die Behörde des Landkreises nicht schon längst aktiv geworden ist. Laut dem Gutachten des Betreuungsgerichts sei der Mann psychisch krank und höre Stimmen, die ihn zu kriminellen Taten anstiften.
Dieser Artikel erschien am 23.08.2022 in der Ausgabe #144.
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