Wie steht es um die gleichberechtigte Teilhabe der Menschen mit Behinderungen in der Arbeitswelt – und wie nimmt die niedersächsische Landesverwaltung ihre öffentliche Vorbildfunktion wahr?

„Die Inklusion hat leider in den vergangenen fünf Jahren in Ministerien und Landeseinrichtungen nicht die Rolle gespielt, die sie aus unserer Sicht haben sollte. Vor allem die Gewinnung und Förderung schwerbehinderter Beschäftigter hat nach wie vor keinen angemessenen Stellenwert“, sagt Christian Stichternath, Vize-Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaften der Schwerbehinderten-Vertretungen bei den obersten Landesbehörden (LAGSV). Der Vorsitzende dieses Gremiums, Björn Meißner, ergänzt: „Es wäre schön, wenn die Landesregierung unsere Arbeit stärker unterstützen und die Expertise ihrer Schwerbehindertenvertretungen mehr nutzen würde.“
„Die Funktion der Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderungen ist inzwischen seit mehr als anderthalb Jahre krankheitsbedingt nicht besetzt."
Christian Stichternath
Bald stehen turnusmäßige Neuwahlen der LAGSV an. Stimmberechtigt sind die elf Schwerbehindertenvertretungen der Ministerien und der Staatskanzlei sowie die 13 sogenanntenHauptschwerbehindertenvertretungen, die für die jeweiligen Geschäftsbereiche bei diesen zuständig sind – unter anderem auch für die Polizei und für die Lehrkräfte. Meißner tritt nach fünf Jahren aus Altersgründen nicht mehr an, Stichternath bewirbt sich ebenfalls nicht erneut. Beide blicken kritisch zurück. Es habe durchaus positive Entwicklungen gegeben, so ein enges Zusammenwirken mit Innen-Staatssekretär Stephan Manke (SPD), vor allem bei der Novellierung der Schwerbehindertenrichtlinien für das Land.
Es gebe aber auch die Schattenseite, ergänzt Stichternath: „Die Funktion der Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderungen als wichtiger Multiplikator der Inklusion im Land ist inzwischen seit mehr als anderthalb Jahre krankheitsbedingt nicht besetzt.“ Dies habe leider nicht dazu geführt, dass die Landesregierung sich zügig um die Neubesetzung oder eine angemessene Abbildung der Themen gekümmert habe. Inzwischen ist die Stelle der bisherigen Beauftragten, Petra Wontorra, ausgeschrieben worden. „Niedersachsen braucht in dieser Position dringend eine starke Persönlichkeit, die auch gegenüber der Politik Klartext spricht", betonen Meißner und Stichternath. Sie nennen noch weitere Punkte:
Land muss endlich Mindestbeschäftigungsquote erfüllen:
Laut Sozialgesetzbuch müssen Arbeitgeber mit mehr als 20 Mitarbeitern mindestens fünf Prozent ihrer Stellen mit Schwerbehinderten besetzen. Von 189.000 Landesbediensteten seien es Ende März 2022 gerade mal 8639 gewesen, also 4,57 Prozent. Damit bewegt sich Niedersachsen seit etlichen Jahren schon im letzten Drittel aller Bundesländer. „Besonders bei den Lehrkräften, bei der Polizei und an den Hochschulen sind die Quoten gering“, berichtet Stichternath. Das könne mit dem harten Konkurrenzkampf unter Wissenschaftlern, um unbefristete Stellen zusammenhängen. Eine Schwerbehinderung gelte bei manchem leider immer noch als Leistungseinschränkung.
Wenig bekannt sei überdies, dass auch schwerbehinderte Menschen verbeamtet werden können. Ärgerlich sei, dass die Landesverwaltung zu wenig Eigeninitiative entwickle und auch nicht immer die Förderinstrumente nutze, um Schwerbehinderte in Arbeit zu bringen. Die Kommunen in Niedersachsen stehen übrigens deutlich besser da: Hier beträgt der Beschäftigungsanteil Schwerbehinderter 6,17 Prozent.

Zu wenig Ausbildung und Reformbedarf bei Werkstätten:
Von den 7500 Ausbildungsstellen in der Landesverwaltung würden durchschnittlich nur rund 100 an Jugendliche mit einer schweren Behinderung vergeben. Meißner und Stichternath meinen, dass es Aufgabe der Landesverwaltung sei, hier enger mit geeigneten Bildungsträgern, Werkstätten, Fachleuten und Hochschulen zu kooperieren. „Wir sehen die Behindertenwerkstätten ambivalent. Sie bieten einerseits einen notwendigen Schutzraum. Andererseits sind sie weder an den Mindestlohn gebunden, noch haben sie Interesse, geeigneten Beschäftigten einen Wechsel in den ersten Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Hier müssen Landespolitik und Land als Arbeitgeber stärkere Anreize setzen und auch die Bundespolitik ist gefordert.“
Umfassende Barrierefreiheit lässt zu wünschen übrig:
Vielerorts seien die Landesgebäude nicht behindertengerecht geplant und ausgestattet. Das lasse sich bei Neubauten und größeren Umbauten beheben, wenn die bauliche Barrierefreiheit gleich zu Beginn des Planungsprozesses verpflichtender Bestandteil würde. „Andere Länder haben das in ihrer Bauordnung über die sogenannte Barrierefrei-Planung verankert“, sagt Meißner.
„Leider wird auch die Digitalisierung in der Landesverwaltung zu wenig als Chance zur inklusiven Teilhabe begriffen."
Christian Stichternath
Stichternath ergänzt: „Leider wird auch die Digitalisierung in der Landesverwaltung zu wenig als Chance zur inklusiven Teilhabe begriffen. Es sei nicht nachvollziehbar, wenn die elektronische Aktenführung, die Bearbeitung juristischer Vorgänge oder die Recherche in landeseigenen Informationssystemen nicht barrierefrei möglich ist. Wenn beispielsweise blinde oder sehbehinderte Beschäftigte auf einmal Hilfe von Dritten benötigen, weil die neue Software oder Benutzeroberflächen von ihnen nicht genutzt werden können, dann läuft etwas falsch.“