Analyse: Was der Bruch von Grün-Rot in der Landeshauptstadt für Rot-Grün in Niedersachsen bedeutet
Als die aktuelle niedersächsische Landesregierung vor wenigen Wochen ihren ersten Geburtstag hatte, war von einer langen Liste an Erfolgen noch keine Rede. Denn die Gesetzgebung, das Kernstück jeglicher Regierungsarbeit, kommt äußerst schleppend voran. Es dauert zwischen SPD und Grünen einfach viel zu lange mit der Verständigung auf geplante Neuerungen. Aber immerhin, eines betonten beide Partner dann doch unisono: „Die Stimmung ist prima! SPD und Grüne verstehen sich großartig!“ Das schien zu dieser Zeit, Anfang November, auch noch zutreffend zu sein. Wer würde besser harmonieren als die Sozialdemokraten, die gerade auch in Hannover einen starken linken Flügel haben, und die Grünen, die in vielen Fragen die Politik eher noch etwas weiter links gestalten wollen?
Heute ist die Lage anders. Just zu dem Tag, da auf Bundesebene die rot-grün-gelbe Bundesregierung in ernstes Fahrwasser gerät, weil überall das Geld fehlt, zerbricht das rot-grüne Mehrheitsbündnis im hannoverschen Rat. Das geschieht gut zwei Jahre nach der Kommunalwahl und drei Jahre vor der nächsten. Das enge Bündnis von Sozialdemokraten und Grünen, eigentlich seit mehr als 30 Jahren eine verlässliche Basis für die Stadtpolitik, gehört nun der Vergangenheit an. Die SPD steigt aus dem Bündnis mit den Grünen aus. Die Grünen sind damit die Verlassenen. Aus der SPD heißt es, der den Grünen angehörende Oberbürgermeister Belit Onay habe das provoziert, da er sein Verkehrskonzept für die „autofreie Innenstadt“ vor der öffentlichen Präsentation nicht ausreichend mit den SPD-Oberen abgestimmt habe.
Darauf wird aus Onays Umfeld erwidert, dass der Vorwurf nicht stimme – vielmehr sei die SPD Abstimmungsversuchen geschickt ausgewichen. Was stimmt nun? Das dürfte am Ende zweitrangig sein, denn der Kern des Zerwürfnisses ist eine Vertrauenskrise: Der OB spürte im Rathaus, das in vielen Bereichen stark sozialdemokratisch geprägt ist, starken Gegenwind – und bei der SPD im Rat ebenso. Manche in Onays Umfeld vermuteten, die SPD gönne dem OB keine Erfolge. Die SPD wiederum ist zwar für die Verkehrswende und trägt auch das Modell der „autofreien Innenstadt“ mit – zum großen Teil wenigstens. Aber die Rigorosität, mit der Onay beispielsweise das Parkplatzangebot in Stadtrandbereichen eingrenzen will, geht in der SPD vielen gegen die Hutschnur.
Weiteres kommt hinzu: Zehn Wochen habe man, sagt die SPD, mit Onay über sein Konzept reden wollen, es ging um Beteiligung von Wirtschafts- und Kulturverbänden und um die Finanzierung. Ein Loch von sieben Millionen Euro jährlich drohe wegen der wegfallenden Parkgebühren-Einnahmen. Onay aber habe keine Zahl genannt. Und das Haushaltssicherungskonzept mit geplanten Einsparungen von sechs Millionen Euro gehe der SPD auch zu weit. Das ist mutig, zumal der Autor des Konzepts niemand anders als Finanzdezernent Axel von der Ohe (SPD) ist.
Der SPD-Vorstand mit dem ehrgeizigen und strategisch denkenden Parteichef Adis Ahmetović an der Spitze ging in den vergangenen Wochen mehrfach öffentlich nach vorn, wenn es um Kritik an Onays Politik ging. Gleiches gilt für einen anderen prominenten Sozialdemokraten aus Hannover, Regionspräsident Steffen Krach. Trotz der gut begründeten Kritik in der Sache bleibt der Eindruck haften, dass die Ursachen für den Bruch von Grün-Rot nicht in der Verkehrspolitik und auch nicht in den von der Verwaltung geplanten Kürzungen liegen.
Die SPD hat die Schmach von 2019, erstmals nicht mehr den OB stellen zu dürfen, ja nicht einmal in die Stichwahl gekommen zu sein, bis heute nicht verwunden. Das Hauptziel der SPD, die in Hannover immer noch über die mit Abstand funktionstüchtigste und mitgliederstärkste Organisation sämtlicher Parteien verfügt, ist die OB-Wahl im September oder Oktober 2026: Dann soll in Hannover, der Stadt Kurt Schumachers, wieder ein Sozialdemokrat neuer OB werden. Irgendwann muss in der SPD die Erkenntnis gereift sein, dass ein spätestens 2025 startender Wahlkampf „die SPD gegen Onay“ nicht überzeugend wirken kann, solange die Sozialdemokraten als Partner der Grünen im Rat die Mehrheiten für Onays Politik sichern müssen. Also musste das Bündnis platzen – und die SPD platziert sich nun an der Seite von CDU und FDP stärker in der Mitte und drängt Onay in die linke Ecke.
Ob das aus Sicht der SPD klug ist? Der leichte Ruck nach rechts dürfte vielen Linken in der Stadt-SPD nicht gefallen. Aber Ahmetović scheint in der SPD stark genug zu sein, sich solch eine Aktion ohne ernsthafte Gegenwehr leisten zu können. Die Grünen sind in einer eher schwachen Situation, denn weder mit der CDU noch der FDP dürften sie angesichts der starken aktuellen Bedeutung der Verkehrspolitik eine Einigung für ein neues Bündnis hinbekommen können. Das macht den Schmerz indes nicht kleiner. Die CDU indes wittert die Chance, endlich mal wieder Teil der Machtoption im Rathaus zu sein – selbst wenn die Dezernentenposten mittlerweile alle verteilt sind, ohne dass die CDU dabei berücksichtigt worden wäre. Für derlei Hoffnungen ist es indes viel zu früh. Ahmetović und SPD-Ratsfraktionschef Lars Kelich planen zunächst das Modell „wechselnder Mehrheiten“ und noch nicht die „Deutschland-Koalition“ aus SPD, CDU und FDP.
Das Risiko für die SPD liegt eher eine Ebene weiter oben – auf der Landesebene. Die rot-grüne Koalition im Lande klappt vor allem deshalb, weil die Spitzenpersonen Stephan Weil (Wahlkreis Hannover-Buchholz) und Julia Hamburg (Wahlkreis Hannover-Mitte) sich so gut verstehen, weil sie sich vertrauen. In ihrem Umfeld agieren mehrere Stützen von Rot-Grün, so die Fraktionschefs im Landtag. Ihre politische Prägung besagt, dass sich SPD und Grüne einfach nahestehen. Und wenn das in manchen Städten nicht mehr so war, etwa in Lüneburg, dann konnte man immer auf die Landeshauptstadt verweisen. Dort, hieß es stets, herrscht sogar ein „rot-grünes Lebensgefühl“.
Man ist aufgeschlossen, modern und tolerant, man strahlt auch überregional über die eigenen Grenzen hinaus. Dieses Lebensmodell, für das der OB Herbert Schmalstieg jahrzehntelang der beste Botschafter war, wird nun mit dem Koalitionsbruch in Frage gestellt. Während die Parteien in Hannover nun gezielt die nächste OB-Wahl 2026 in den Blick nehmen, muss sich Rot-Grün im Landtag auf härtere Zeiten einstellen. Es wäre doch eine Illusion zu glauben, die Vorgänge rund um den Bruch der Rathauskoalition hätten keine Auswirkungen auf die Landespolitik. Man darf vermuten, dass ohne das Okay von Stephan Weil als Landesvorsitzender die hannoversche SPD so nie entschieden hätte.
Aus der SPD heißt es, man habe Weil informiert, aber der habe „das gar nicht so genau wissen wollen“. Ob die Grünen in Hannover, die im Zusammenhang damit einen Macht- und Ansehensverlust befürchten müssen, für die taktischen Schritte der SPD Hannover Verständnis haben? Oder ist es nicht wahrscheinlicher, dass die Enttäuschung darüber über Julia Hamburg oder Christian Meyer auch in die Landesregierung getragen wird? Wird Weil irgendwann gefordert sein, mit einer mehr als nur symbolischen Tat seine Treue zu den Grünen unter Beweis zu stellen? In der Pressekonferenz der Stadt-SPD sagte Kelich am Montag, die rot-grüne Kooperation in Hannover sei „seit langem von Misstrauen geprägt“ gewesen, und „so kann man nicht gestalten“. Dann meinte er noch: „Fragt man drei Grüne zu einem Thema, dann bekommt man dazu drei verschiedene Antworten.“ Dieser beißende Spott wird auch in der Grünen-Landtagsfraktion aufmerksam gelesen werden.
Das alles erschwert die Lage von Rot-Grün im Landtag, zumal auch die anstehenden Entscheidungen auf Landesebene alles andere als geeignet sind, rot-grüne Herzen höher schlagen zu lassen. Die Einnahmesituation verdüstert sich, Raum für kräftige Mehrausgaben gibt es kaum. Die Rufe nach einer Abschaffung oder Lockerung der Schuldenbremse, in die Weil sehr gerne einstimmt, klingen zwar schön, sind aber so lange nutzlos, wie eine verfassungsändernde Mehrheit in den Parlamenten dafür nicht zustande kommt.
Und was das Thema Zuwanderung angeht, muss die rot-grüne Landesregierung irgendwann die Verschärfung der Asylpolitik auch im Bundesrat billigen. Die SPD würde das wohl, soviel deutet sich bereits an. Aber die Grünen? Im Unterschied zu den Bundes-Grünen sind die niedersächsischen Grünen sehr weit links angesiedelt, und sie hadern mit den Beschlüssen der Ministerpräsidentenkonferenz zur Zuwanderung. Wenn das Thema zu einem ernsten Streit zwischen SPD und Grünen auf Landesebene führen sollte, wird es vielleicht doch einige geben, die am nötigen emotionalen Zusammenhalt der beiden Regierungsparteien zweifeln. Sie hätten dann ein historisches Datum, auf das sie verweisen können: der 27. November 2023 in Hannover. Der Tag, an dem die SPD die Grünen verlassen hat.
Dieser Artikel erschien am 28.11.2023 in der Ausgabe #207.
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