28. Nov. 2018 · 
Soziales

Ärzte warnen vor hohen Erwartungen an den Segen der Tele-Medizin

Ab dem 1. Dezember dürfen sich auch Patienten in Niedersachsen im Einzelfall von ihrem Arzt per Videosprechstunde beraten lassen und auch das Ausstellen von Rezepten aus der Distanz soll möglich sein – das hat die Ärztekammer Niedersachsen beschlossen. Diese Neuerung in der Muster-Berufsordnung ist ein weiteres Beispiel für den Einzug der Digitalisierung in der Medizin. Auf Seiten der Ärzte erhofft man sich durch die Technik mehr Unterstützung im Berufsalltag und einen besseren Service für die Patienten. Doch in der Diskussionsrunde beim zweiten „Digitalgipfel Gesundheit“ der Ärztekammer in Hannover wurde gestern deutlich, dass die Digitalisierung nicht zum Heilsbringer hochstilisiert werden darf. Zu oft klaffen Anspruch und Wirklichkeit noch auseinander, und mancher Widerspruch wird sich gar nicht auflösen lassen. „Uns muss klar sein, dass wir mit der Telemedizin keine weitere Arztminute schaffen werden. Ob wir den Patienten nun in der Praxis oder via Webcam beraten, wird keinen zeitlichen Unterschied machen“, sagt Josef Mischo, Präsident der Ärztekammer im Saarland. Die Digitalisierung der Medizin schreitet voran. Bis Ende nächsten Jahres sollen deutschlandweit alle Arztpraxen an die sogenannte Telematik-Infrastruktur angebunden werden und Patientendaten zentral abgleichen können, ab 2019 folgen Krankenhäuser und Apotheken. Mitte kommenden Jahres sollen auch erste Anwendungen über diese Infrastruktur möglich sein, etwa die Einsicht in Notfall- und Medikamentenpläne der Patienten. „Unser vorrangiges Ziel ist jedoch die Einführung der elektronischen Patientenakte“, sagt Thomas Gebhart, Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium. In den kommenden drei Jahren soll jeder Bürger diesen „virtuellen Raum“ mit all seinen unterschiedlichen Datensätzen über seine Gesundheit bekommen können und selbst bestimmen, welcher Arzt, welche Kasse auf welche Daten zugreifen kann. „Das gibt dem Patienten einerseits den Vorteil, dass seine Daten immer verfügbar sind. Nie wieder wird er den Impfpass suchen müssen. Andererseits bekommen die behandelnden Ärzte einen schnellen Überblick und können den Patienten besser behandeln“, sagt Gebhart.
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So schnell dürfte diese Vision aber nicht für alle Realität werden, gibt der Facharzt Wolfgang Lensing zu bedenken. „Zu uns kommen sehr viele ältere Patienten. Die geben uns oft den Personalausweis, weil sie ihn mit der Gesundheitskarte verwechseln. Und diese Menschen wollen Sie in Zukunft auch noch um ein Passwort für ihre elektronische Akte bitten? Das wird nicht funktionieren.“ Der Facharzt für Hauterkrankungen übernimmt in der Diskussionsrunde generell den Part des Skeptikers. Die Videosprechstunde und die Fernbehandlung durch die Zuarbeit eines Praxisassistenten etwa hält er für seinen Bereich für kaum umsetzbar. „Man spart sich direkte Begegnungen mit dem Patienten nicht. Etwa 50 Prozent der Melanome von schwarzem Hautkrebs entdecken wir Ärzte beiläufig, während der Patient auf eine ganz andere Stelle zeigt. Das ist mit einer Ferndiagnose nicht mehr zu leisten.“ Denn man müsse sich die ganze Haut genau anschauen und betasten. „Das kann weder ein Assistent machen noch eine künstliche Intelligenz.“ Allerdings bietet die Telemedizin dafür in anderen Bereichen eine wertvolle Unterstützung. In Nordrhein-Westfalen etwa gibt es seit einiger Zeit das Modellprojekt „Telenotarzt“. Es ermöglicht Notärzten eine erste Diagnose, ohne am Unfallort zu sein. „Das ersetzt nicht den direkten Kontakt zum Patienten, aber es erweitert die Möglichkeiten“, sagt Mischo. Denn normalerweise versorgen Ersthelfer das Opfer und dann muss auf den Notarzt gewartet werden. Mithilfe des „Telenotarztes“ dagegen kann noch vor Eintreffen des Arztes eine erste Diagnose gestellt werden und das Opfer bekommt eine bessere Ersthilfe. „Darüber hinaus ist Telemedizin eine Möglichkeit, die Versorgung in ländlichen Gebieten sicherzustellen“, sagt Inken Holdorf, Leiterin der niedersächsischen Landesvertretung der Techniker-Krankenkasse. „In Regionen, in denen jetzt schon Ärzte fehlen, können etwa chronisch kranke Patienten ihre Sprechstunde bekommen, ohne dass sie stundenlang zur nächsten Arztpraxis fahren müssen.“
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #213.
Klaus Wallbaum
AutorKlaus Wallbaum

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