16. März 2020 · Kommentar

Pro & Contra zur Corona-Abwehrstrategie

Die Landesregierung in Niedersachsen wählt die Politik der vorsichtigen Schritte, wenn es um die Abwehr des Corona-Virus geht. Sie will vermeiden, dass mit übereilten und womöglich zu scharfen Schritten in der Bevölkerung eine Panik ausgelöst wird. Ist das ein kluger Weg? Die Rundblick-Redaktion streitet darüber in einem Pro & Contra. [caption id="attachment_14869" align="alignnone" width="780"] Martin Brüning (li.) und Klaus Wallbaum - Foto: DqM[/caption]

PRO: Für das kaskadenartige Vorgehen der Behörden gibt es gute Gründe. Das sinnvolle Vortasten bei einzelnen Maßnahmen darf aber nicht mit Stockfehlern verwechselt werden, die in der Landespolitik auch zu beobachten sind, meint Marin Brüning.

Das Land ist in einer Ausnahmesituation, und in solchen Situationen fallen immer besonders diejenigen auf, die natürlich ohnehin besser wissen, was zu tun wäre. So ist derzeit immer wieder Kritik am Vorgehen der Politik zu hören, die den vollständigen sogenannten Shut-down demnach am besten schon vor Wochen hätte einleiten sollen. Abseits der Fragen, die sich in der Tat aus dem Regierungshandeln heraus stellen, gibt es für das kaskadenartige Vorgehen der Behörden allerdings gute Gründe. Dabei geht es nicht nur um die erhebliche organisatorische Herausforderung, die der Schließung von Kindergärten, Schulen, Geschäften oder den Einschränkungen im öffentlichen Personennahverkehr vorausgehen, sondern auch um eine sinnvolle Planung dessen, was noch vor uns liegt.

Auch im Falle bundesweiter Regelungen wäre ein Kaskadensystem bei den zu treffenden Maßnahmen sinnvoll – allerdings wären es dann dieselbe Kaskaden für alle.
Wie komplex die Situation ist, lässt sich seit Tagen an den Reaktionen der Gesellschaft ablesen. Während die einen in Panik verfallen, Supermärkte leerkaufen und die Haustür verrammeln, sitzen die anderen immer noch in Straßencafés und schlendern am Sonnabend durch die Geschäfte der Innenstadt. Es ist nicht einfach, eine ganze Gesellschaft auf diesen Weg mitzunehmen, und es bedarf eines schrittweisen Vorgehens. Wer mit Verweis auf die Regierung in Wien Österreich zum Vorbild erhebt, muss sowohl bedenken, dass Österreich dem Geschehen in Italien räumlich deutlich näher ist, als auch, dass es ein Unterschied ist, rigide Maßnahmen in einem Land mit einem Zehntel der Einwohnerzahl Deutschlands umzusetzen. Hinzu kommt: Niemand weiß, wie lange wir diese Situation zu ertragen haben werden, und am Ende wird es eben vielleicht doch eine Rolle spielen, ob die Bahnen vier oder 14 Wochen nicht gefahren sind. Die Abwägung zwischen der Sicherheit besonders gefährdeter Gruppen, dem Aufrechterhalten eines Teils des gesellschaftlichen (Arbeits-)Lebens und dem Antizipieren der Entwicklung ist so komplex, dass eine ad-hoc-Bewertung der Entscheidungen der Krisenstäbe häufig nicht ganz einfach zu treffen ist. Auf der anderen Seite darf man Kaskaden auch nicht mit Chaos verwechseln und hier stellen sich angesichts des niedersächsischen Krisenmanagements schon Fragen. So war es zwar verständlich, aber in der Situation auch ein wenig merkwürdig, dass Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil die wichtige Pressekonferenz am Freitag zunächst einmal minutenlang dazu nutzte, um unter anderem Allgemeinheiten des aktuellen Standes der Wissenschaft zum Coronavirus zu verbreiten, obwohl doch die breite Mehrheit zu dem Zeitpunkt allen voran wissen wollte, wann und wie Schulen geschlossen werden sollen und welche weiteren Einschränkungen es noch geben wird. Ebenso erstaunlich war es, dass Sozialministerin Carola Reimann am Freitag davon sprach, dass Deutschland vielleicht „das beste Gesundheitssystem der Welt“ habe. Haben wir das? Kann sein, kann nicht sein. Aber zu einem Zeitpunkt, an dem tausende Bürger in Warteschleifen der 116 117 hängen und sich noch über die Mundschutz- und Schutzkitteldebatte im deutschen Gesundheitswesen wundern, war es zumindest unter politischen Gesichtspunkten kein besonders sinnvoller Zeitpunkt für eine solche Aussage. Und zu guter Letzt betonte Kultusminister Grant Hendrik Tonne am Freitag auf Nachfrage ausdrücklich die Anwesenheitspflicht der Lehrer trotz der Schulschließungen, um am Sonntag, zwei Tage später, per Erlass die Schulen dazu aufzufordern, möglichst Home-Office zuzulassen. Auch die nachmittäglichen Zahlen des Sozialministeriums, bei denen in der Region Hannover sowohl am Sonnabend als auch am Sonntag eine Steigerung von null Infizierten verzeichnet wurde, was allerdings angesichts der kommunalen Daten nicht stimmte, vermittelten in diesem Fall ein nicht korrektes Bild der Lage. Nun kann man das angesichts dieser außergewöhnlichen Situation als Petitessen abtun, aber es wären vermutlich vermeidbare Stockfehler im Krisenmanagement. Schwerer wog das unterschiedliche Vorgehen der Länder, das viele Bürger, ob zu Recht oder zu Unrecht, am Krisenmanagement zweifeln ließ. In einer Zeit, in der viele Informationen über bundesweit agierende Medien, häufig Online-Plattformen, verbreitet werden und die Lokalzeitung nicht mehr automatisch in jedem Briefkasten liegt, wird die Lage für den Einzelnen an dieser Stelle schnell unübersichtlich. Eine Eilmeldung jagt die nächste, und am Ende weiß man nicht mehr so genau, welches Land nun mit welchem Verfahren welche Nord- und welche Ostseeinsel abriegelt. Und warum werden in einem Bundesland die Schulen eigentlich nach und nach geschlossen, während andere Bundesländer die Schultore generell am Montag geschlossen haben? Hier stolperte der Föderalismus bisher über sich selbst. So gut es im Normalfall ist, Entscheidungen so nahe wie möglich am Bürger zu treffen, so schwierig wird das in Krisensituationen. Insofern ist es eine sehr gute Entwicklung, dass sich die Länder nun bei der nächsten Maßnahmenstufe miteinander abgesprochen haben und Stephan Weil genau darauf auch gepocht hat. Auch im Falle bundesweiter Regelungen ist ein Kaskadensystem bei den zu treffenden Maßnahmen sinnvoll – allerdings sind es dann dieselben Kaskaden für alle. Mail an den Autor des Kommentars  

CONTRA: Schlimme Nachrichten werden für die, die sie erfahren müssen, nicht erträglicher, wenn man sie in Häppchen präsentiert. Deshalb ist zu bezweifeln, ob die Methode der allmählichen Gewöhnung an den Ausnahmezustand die richtige ist, meint Klaus Wallbaum.

Eine Botschaft vorweg: Die Art, wie die Landesregierung auf das sich ausbreitende Corona-Virus in Niedersachsen reagiert, ist im Großen und Ganzen angemessen. Es mischen sich Besonnenheit und Entschlusskraft, auch das Zusammenspiel der Bundesländer funktioniert. Natürlich ist mal ein Land schneller als das andere, hin und wieder wirken Äußerungen von Verantwortlichen binnen weniger Stunden auch widersprüchlich. Doch zur Entschuldigung ist anzuführen, dass die Situation eben auch einmalig ist. Wir hatten eine solche Krise in Deutschland bisher noch nicht, wir alle werden in kaltes Wasser geworfen und sollen schwimmen. Dass es einige Wissenschaftler gab, die auf die Temperatur des Wassers (also die Gefährlichkeit des Virus) vorher eindringlich hingewiesen hatten, wollten sehr viele nicht hören. Die Politiker waren da beileibe nicht die einzigen.

So viel Verständnis man für die Akteure in der Politik gegenwärtig haben sollte, so viel Anlass gibt es aber auch zum kritischen Hinterfragen der Strategie. Ministerpräsident Stephan Weil hat vor wenigen Tagen von zwei Schritten gesprochen, zunächst den Vorkehrungen, eine rasche Verbreitung des Virus zu verhindern und später dann eine gezielte Versorgung der Erkrankten sicherzustellen. Es gibt offenbar daneben noch eine andere, nicht offen kommunizierte Absprache: Die Dosis der Gegenmittel gegen das Virus soll Tag um Tag erhöht werden, damit die Menschen in dieser Therapie „mitgenommen“ und nicht geschockt werden. Also am Montag die Schulschließungen, am Dienstag dann Sportanlagen, Möbel- und Modegeschäfte und Kneipen, später dann vielleicht noch der öffentliche Personen-Nahverkehr und ganz am Ende womöglich die allgemeine Ausgangssperre wie in Italien. In dieser Theorie stellt sich jede einzelne Einschränkung für die Betroffenen als erträglich heraus, so dass der nächste nur noch eine Nuance mehr ist und kaum mehr als Verschlimmerung wahrgenommen wird.
In der Theorie stellt sich jede einzelne Einschränkung für die Betroffenen als erträglich heraus, so dass der nächste nur noch eine Nuance mehr ist und kaum mehr als Verschlimmerung wahrgenommen wird.
Aber stimmt diese Theorie? Zweifel sind angebracht. Tatsache ist, dass alle Menschen, die aufmerksam Nachrichten hören und lesen, von den teilweise drastischen Verboten in anderen Ländern hören – nicht nur in China, wo eine Großstadt komplett abgeriegelt wurde. In Italien dürfen die Menschen nicht mehr ihre Häuser verlassen, in Österreich herrscht – wie seit heute in Niedersachsen auch - Versammlungsverbot, in Frankreich werden alle Behörden geschlossen. Das Virus überschreitet jede Grenze, und all jene, die drastische Maßnahmen an den – noch verhaltenen – hierzulande messen, fragen sich unwillkürlich: Warum wird das, wenn es uns doch noch bevorsteht und gerade jetzt die Ausbreitung verhindert werden soll, nicht auch angeordnet? Die Gutmeinenden werden sagen: Weil das Virus noch nicht so grassiert wie etwa in Italien oder Österreich, und weil die Mühlen der Politik nun mal langsam mahlen. Die Übelmeinenden werden sagen: Weil die Politiker hierzulande nicht den Mumm haben, Unpopuläres zu beschließen und diese Fragen möglichst lange vor sich herschieben. Im zweiten Fall befördert es dann alle jene, die seit langem von einem nötigen Systembruch schwafeln. Nun kann man ja verstehen, dass beispielsweise Ministerpräsident Weil vor radikalen Schritten zurückschreckt, hat er doch noch vor einer Woche vor allem zur „Gelassenheit“ geraten. Heute klingt er anders, heute sind die Maßnahmen in Deutschland durchaus auch weitreichend. Wahr ist nun aber auch: Das schleichende Gefühl, bereits von Einschränkungen betroffen und sein und nicht zu wissen, wann eine weitere Verschärfung dieses Zustands bevorsteht, kann Ängste und Unwohlsein noch zusätzlich befeuern. Womöglich wäre es für die menschliche Psyche einfacher, wenn man gleich das volle Paket an Auflagen erhält und sich damit einrichten muss, aber gleichzeitig weiß, dass weitere Schritte nicht folgen werden. In einem solchen Fall bestünde die Verschlimmerung des Zustandes nicht mehr in weiteren eingeschränkten Rechten, sondern „nur“ darin, dass die Zahl der Infizierten steigt, die Zahl der Toten auch – und dass die Wahrscheinlichkeit wächst, irgendwann von davon Betroffenen auch im Freundes- und Bekanntenkreis zu wissen. Die Landesregierung in Niedersachsen hat sich trotzdem für den anderen Weg entschieden. Ob er der bessere war, wird man erst viel, viel später wissen – wenn die Corona-Krise endlich überwunden sein wird. Mail an den Autor des Kommentars
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #052.
Martin Brüning
AutorMartin Brüning

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