(rb) Die „Frühstückstouren“ des Naturschutzbundes Deutschland (Nabu) sind gefragt bei Vogelfreunden, Natur- und Umweltschützern, Fotografen, Filmern und Touristen. Die Nabu-Ortsgruppe Rheiderland lädt im Februar und März zu diesen Spaziergängen an der Nordsee ein. Der Landstrich im Nordwesten Niedersachsens zwischen dem Flusslauf der Ems und der Staatsgrenze zu den Niederlanden ist von September bis Mai die Heimat von gut und gerne 100 000 Wildgänsen. Die Vögel kommen aus arktischen Gefilden und überwintern jetzt in Ostfriesland. Und weil von Jahr zu Jahr immer mehr Vögel die lange niedersächsische Küste zwischen Emden und Cuxhaven anfliegen und wegen des Klimawandels immer länger bleiben, sind die Gänse nun ein Problem geworden, das mittlerweile sogar zum wichtigen politischen Thema am Kabinettstisch der rotgrünen Landesregierung mutiert ist.
Wenn die Wildgänse kommen, ist für die hungrigen Vögel der Tisch gedeckt: Das Gras auf den Wiesen an der Nordseeküste steht im Spätsommer und im Frühjahr voll im Saft. Hunderte oder gar Tausende sind es, die zwischen Sielen, Sandstränden, Deichen und unzähligen Windenergieanlagen in die Region einfallen und ihre Mägen mit frischem Wiesengras füllen. Seit durch klimatische Einflüsse wärmere Winter in Nordeuropa eingezogen sind, kehren viele Wildgänse nicht einmal mehr zum Brüten in ihre eigentliche Heimat zurück. Sie tun das an der Nordsee, wo schließlich der geschlüpfte Nachwuchs heimisch wird und die Gänse-Populationen weiter vergrößert.
Der Vogelzug hat weitere Schattenseiten: Während die Nabu-Freunde frohlocken und Fotografen perfekte Bildmotive geliefert bekommen, legen sich Sorgenfalten auf die Stirn der ostfriesischen Milchbauern. Denn die Wildgänse haben in wenigen Stunden mit ihrem Kahlfraß nicht nur die wertvolle Grasernte der Landwirte vernichtet. Ihre ausgeschiedenen Hinterlassenschaften bedecken stets viele Hektar einst besten Grünlands. Den „Totalausfall“ der Ernte konstatierte die Kreisverwaltung in Aurich wiederholt, wenn Landwirte sich wegen eines Schadensausgleichs durch die öffentliche Hand an den Landkreis wandten. Gezahlt hat der Kreis nicht. Er sieht das Land Niedersachsen in der Pflicht.
Dort ist das Thema inzwischen Chefsache. Umweltminister Stefan Wenzel schickte jetzt seine Staatssekretärin Almut Kottwitz nach Brüssel, wo Politiker, Landwirte und EU-Bürokraten sich auf ein sogenanntes Gänsemanagement für die Region Weser-Ems einigten. Die Europäische Kommission ist daran beteiligt, weil viele der betroffenen landwirtschaftlichen Flächen an der ostfriesischen Nordseeküste in Brüssel als Vogelschutzgebiete registriert sind. Deshalb sitzt die EU mit am Tisch, wenn es um einen Schadensausgleich für die arg gebeutelten Landwirte geht. Es seien besonders die Grau- und die Nonnengänse, deren Vielzahl zu erheblichen Einschränkungen bei der landwirtschaftlichen Nutzung führen. Ertragsausfälle seien an der Tagesordnung, klagten die Bauern.
Doch nun soll es den Nonnengänsen an den Kragen gehen. Jedenfalls einigen. Notfalls sollen sie abgeschossen werden. Zumindest dann, wenn „beispielsweise eine landwirtschaftliche Produktion durch die Schäden quasi nicht mehr möglich ist, auch in ausgewiesenen Schutzgebieten“, ließ das Umweltministerium im Anschluss an die Brüsseler Besprechung verlauten. Da ist es kein Widerspruch, dass Niedersachsen in Brüssel zugesagt hat, für den gesamten Küstenbereich einen Gänse-Managementplan zu erarbeiten. Zugleich soll der „gute Erhaltungszustand der betroffenen Arten auf Dauer“ gesichert werden. Weil die Probleme mit den Zugvögeln in den Niederlanden und in Dänemark ähnlich groß sind, will Niedersachsen die Wildgänse nun zum Thema in der Trilateralen Wattenmeerkonferenz machen.
Doch diese Pläne des Landes rufen nun Vogel- und Umweltschützer auf den Plan. Der Nabu hat bereits öffentlich gegen eine Lockerung des bisher geltenden Jagdverbots protestiert. Auch der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) wendet sich gegen eine teilweise Freigabe der Jagd auf Nonnengänse. Die Vögel sollen weiterhin den ungetrübten Schutz des Gesetzes genießen können, verlangen die beiden Verbände. Der Nabu bewirbt unterdessen weiterhin erfolgreich seine Zugvogeltage: Für 28 Euro pro Person gibt es die Wanderung zu den Rast- und Futterplätzen der Gänse-Schwärme, inklusive Kaffee und Kuchen. stuDieser Artikel erschien in Ausgabe #40.