Der Titel der Veranstaltung klingt im ersten Moment verwirrend: „Warum wir nicht älter werden“ steht als Botschaft über einem Treffen, zu dem die „Wissenschaftliche Sozietät zu Hannover“ (WS) und die Deutsche Rentenversicherung Braunschweig-Hannover (DRV) eingeladen haben. Aber stimmt denn diese These überhaupt? Seit langem lernen die Kinder in der Schule, dass die Lebenserwartung spürbar steigt – und dass heute Neugeborene locker den 100. Geburtstag übersteigen können. Nun erklärt aber Prof. Stephan Thomsen vom Institut für Wirtschaftspolitik der Uni Hannover, dass dieser Trend seit 2012 gebrochen sei und der Zuwachs an Lebenszeit gebremst werde.

Sonderfaktoren wie Corona verstärkten den Effekt noch. Thomsen nennt ein paar Phänomene: Berufstätige müssen heute ständig erreichbar und überall verfügbar sein, Arbeits- und Freizeitwelt würden verschmelzen, der Medienkonsum sei allgegenwärtig und die Erholungsphasen werden kürzer. Die Belastung nehme allgemein zu.
Reicht das schon zur Erklärung? Der frühere Herzchirurg Prof. Axel Haverich als Vorsitzender der WS und DRV-Geschäftsführer Jan Miede haben neben Thomsen noch einige andere Wissenschaftler und Praktiker eingeladen, um die aktuellen Gesundheitsgefahren in unserer Gesellschaft noch tiefer zu ergründen. Haverich treibt das Thema schon lange um: „Als ich 2020 mit den Herzoperationen aufgehört habe, war es bereits so, dass zwei Drittel der Eingriffe gar nicht nötig gewesen wären, wenn die Patienten einen verantwortungsbewussten Lebensstil gepflegt hätten.“ Was man aktuell brauche, sagt er, ist eine breite Untersuchung der Gesundheitsdaten in der Bevölkerung – dann nämlich würden die Risikofaktoren offensichtlich werden. Es gebe immer mal wieder Projekte in diese Richtung, die lokal begrenzt sind und dann ein Jahr dauern, mit einem Abschlussbericht enden und danach vergessen werden. „Es ist nötig, dieses Thema strukturell zu unterfüttern“, betont der Professor.

Miede von der DRV stimmt ein: Da eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf 75 Jahre ebenso wenig erstrebenswert sei wie eine Kürzung der Rentenhöhe, komme für die Rentenversicherung verstärkt ein anderer Weg in Betracht: „Diejenigen, die einer Arbeit nachgehen, sollen möglichst lange gesund sein und nicht in die Erwerbsminderung abrutschen.“ 1,9 Millionen Versicherte hat die DRV Braunschweig-Hannover, 400.000 von ihnen hätten ein mittleres bis hohes Risiko einer Erkrankung in den kommenden fünf Jahren. „Wir schreiben die Versicherten direkt an und bieten einen Gesundheitscheck an.“
Wie lauten nun die aktuellen Befunde? Prof. Thomsen sagt, medizinischer Fortschritt, Wohlstand und Hygiene hätten die Lebenserwartung erhöht. Dass dieser Trend derzeit gebrochen ist und das Wachstum stagniert, sei „eine Momentaufnahme und keine Prognose“, denn für eine Analyse der Daten sei eine umfassende Betrachtung der Gesellschaft nötig.
Migranten und bildungsfernere Schichten hätten gemeinhin eine niedrigere Lebenserwartung als höher gebildetere Schichten. Das Wanderungsverhalten von Migranten spiele eine Rolle – wenn etwa ältere Zuwanderer mit Renteneintritt wieder in ihre alte Heimat reisen, fallen sie in Deutschland aus der Statistik. Auch sei wichtig, wie groß die Gruppe derer ist, die sich aus esoterischen oder ideologischen Gründen der Schulmedizin entziehen. Gern würde Thomsen viele Daten verknüpfen und verbinden, um mehr Licht in diese vielen offenen Fragen zu bringen, und er hofft auf das von der Ampel-Koalition in Berlin versprochene „Forschungsdatengesetz“, das die bisherigen Hürden des Datenschutzes für die Wissenschaft absenken soll.
Prof. Haverich stimmt zu: „Bei einem meiner Patienten wollte ich schauen, wie die OP vor 30 Jahren verlaufen war – doch die Unterlagen waren nicht mehr da, denn sie mussten nach zehn Jahren gelöscht werden.“ Aus Sicht des hannoverschen Medizin-Soziologen Prof. Siegfried Geyer sind die Zustände noch drastischer: „Wenn man bestimmte Daten haben möchte, dauert es ziemlich lange, bis eine Bewilligung vorliegt – der Datenschutz blockiert vieles.“
Die Untersuchungen, die Prof. Geyer angestellt hat, geben immerhin wichtige Hinweise. Die gute Nachricht lautet: Mit der in den vergangenen Jahrzehnten gewachsenen Lebenserwartung treten auch bestimmte Erkrankungen wie Herzinfarkte, Schlaganfälle und Lungenkrebs seltener auf – vielleicht deshalb, weil die Menschen heute gesünder leben. Aber auf der anderen Seite gibt es mehr Fälle von Diabetes Typ II, von Übergewicht und Muskelerkrankungen. In einer bestimmten Altersgruppe wachse dann auch wieder das Herzinfarkt-Risiko. In der beruflich aktiven Lebensphase gebe es einige beunruhigende Entwicklungen. Prof. Geyer vermutet, dass die Veränderung der Arbeitswelt der Auslöser sein kann: „Wenn ich früher einen bestimmten Aufsatz gebraucht habe, bin ich aufgestanden, in die Bibliothek gegangen und habe ihn mir kopiert. Heute brauche ich das alles nicht mehr, heute erledige ich das am Computer. Das heißt natürlich: Ich bewege mich weniger.“

Auch bei den Kindern ist dieser Effekt schon zu erkennen. Die hannoversche Kinderärztin Andrea Wünsch von der Region Hannover blickt auf Daten von jährlich 12.000 Kindern, die eingeschult werden – und zu diesem Anlass verpflichtend auf Herz und Nieren überprüft werden müssen. Seit Jahren stellt sie einen Anstieg der Fälle von Übergewicht fest, auch wenn die neuesten Daten wieder etwas nach unten weisen.

35,6 Prozent der 11- bis 13-jährigen Jungen und 29,3 Prozent der Mädchen dieses Alters seien anfällig für Adipositas. Bei den Schuleingangsuntersuchungen stellen die Kinderärzte fest, dass auch sprachliche Schwierigkeiten zunehmen. Diese Hinweise wirken wie Wasser auf die Mühlen von Prof. Haverich, der als Vorkämpfer für gesunde Ernährung und Bewegung unterwegs ist. An einem Netzwerk von vielen Institutionen, die auch in diese Richtung denken, wird schon gearbeitet.
