Mit dem, was Friedrich Merz angesprochen hat, habe er kein Tabu gebrochen, meint Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne). In jeder Versammlung des Deutschen Städtetages seien die Herausforderungen, vor denen moderne Großstädte stehen, ein Thema. Doch die Art und Weise, wie der Bundeskanzler über Abschiebungen als Lösung der „Probleme im Stadtbild“ geraunt hat, das stört Hannovers Stadtoberhaupt gewaltig. In der Debatte gehe vieles durcheinander, klagt der Grünen-Politiker über das Thema, das seit bald zwei Wochen die Republik umtreibt. „Das einmal zu sortieren, wäre hilfreich“, meint er und lädt das Politikjournal Rundblick deshalb zu einem exklusiven Gang entlang einer der zentralen Innenstadtachsen der Landeshauptstadt ein: Vom Ernst-August-Platz durch den Hauptbahnhof, hinunter zum Raschplatz und wieder hinauf am Andreas-Hermes-Platz jenseits der Hochstraße, und schließlich weiter bis zum Weißekreuzplatz. Begleitet von Ordnungsdezernent Axel von der Ohe (SPD) und Sozialdezernentin Sylvia Bruns (FDP) will Onay seine Interpretation der Stadtbild-Debatte darstellen und aufzeigen, was in Hannover schon alles passiert.

Dass die Gegend rund um den Hauptbahnhof ein raues Pflaster sein kann, ist auch für die Stadtspitze kein Geheimnis. Schon seit längerem gilt in dem Gebiet eine nächtliche Waffenverbotszone. Schlagstöcke, Äxte oder Messer dürfen nicht mitgeführt werden. Ein solches Verbot offiziell auszurufen, ist sicher keine Werbung für die Landeshauptstadt, es erleichtert der Polizei aber immerhin die Kontrollen. In einem ersten Schritt hat die Stadt die Zonen, von denen es im Innenstadtgebiet mehrere gibt, bereits räumlich ausgeweitet und miteinander verbunden. Noch bis Ende des Jahres sollen verbliebene Lücken geschlossen werden, erklärt von der Ohe. Das gilt auch für das Zeitfenster, in dem die gefährlichen Gegenstände nicht mitgetragen werden dürfen. Künftig soll das Verbot rund um die Uhr gelten. Von der Ohe berichtet selbst von Passanten, die über die Verbotsschilder gespottet hätten: Und tagsüber sind Waffen also erlaubt? Er wusste um die Schwachstelle dieses Konzepts, doch die Stadtverwaltung hatte juristische Bedenken: Taschenmesser zu verbieten, sei schließlich auch ein Eingriff in die Grundrechte des Einzelnen. Inzwischen meint man im Rathaus aber, die reale Gefahr am Hauptbahnhof gut belegen zu können. Die Anzahl der Delikte, bei denen Messer verwendet werden, sei hoch, sagt von der Ohe, nicht aber ansteigend. Und sie ereigneten sich nicht nur nachts, sondern auch tagsüber.

Der Hauptbahnhof, der sich selbst als „Einkaufsbahnhof“ feiert, ist an diesem Montagnachmittag, wie eigentlich immer, stark frequentiert. Und der Druck werde weiter steigen, prophezeit Onay beim Durchschreiten der Bahnhofshalle. Der Deutschlandtakt werde das Fahrgastaufkommen, das in Hannover ein-, aus- und umsteigt, weiter in die Höhe treiben. Die Bahn plant zudem den Bau zusätzlicher Gleise an der Nordseite des Bahnhofs. Zwischen die Fahrgäste mischt sich ein buntes Publikum. Hannovers Hauptbahnhof ist wegen seiner zentralen Lage innerhalb der Stadt auch ein Nadelöhr, durch das viele hindurchmüssen, die von der Innenstadt in die nordöstlichen Stadtteile gelangen wollen – oder umgekehrt. Der Bahnhof sei das Eingangstor zur City, sagt Onay. Diese wichtige Verbindungsachse werde es auch in Zukunft geben müssen, ist er überzeugt. Die Idee, den Bahnhof nur für Bahnreisende zu nutzen, komme für Hannover daher nicht infrage.

Jenseits von Gleis 14 verändert sich das Bild des Hauptbahnhofs. Zwar hetzen auch hier noch Fahrgäste mit ihren Koffern von links nach rechts, gehen zum Parkhaus, zur U-Bahn oder zum Nordausgang. Unübersehbar sind ab dieser Schwelle aber auch die Prekären, die es in die Bahnhofsnähe zieht. Linkerhand halten sich die Trinker auf, sitzen auf der sogenannten „Oettinger-Bank“ gegenüber dem Zentralen Omnibus-Bahnhof (ZOB). Rechterhand des Bahnhof-Tunnels ist die Drogen-Szene angesiedelt. Zwischen dem letzten Bahngleis und dem Amtsgericht befindet sich das „Stellwerk“, eine Einrichtung, in der Süchtige sauberes Besteck kriegen und auch Drogen konsumieren dürfen. „Die Drogenszene verändert sich“, sagt Sozialdezernentin Bruns. Die Präsenz des öffentlichen Konsums nehme zu, zudem treten die Konsumierenden oft aggressiver auf. Das liege am Crack, das in die Szene reingedrückt werde, sagt sie. Wer früher Heroin genommen habe, lag dann eben so da. Crack aber steigere die Aktivität und den Konsumdruck. Wer über die Fernroder Straße unter den Bahngleisen hindurch fährt, kann deshalb schon mal erleben, wie plötzlich jemand sichtlich zugedröhnt über die Straße läuft. Eine Gefahr bestehe aber eher weniger für Außenstehende, sagt Bruns. Kriminalität finde innerhalb der Szene statt. Dem könne nur durch eine Kombination von Ordnungs- und Sozialdienst begegnet werden, sagt sie mit Blick auf ihren Kollegen von der Ohe.
Noch in den 90ern lagen viele Obdachlose im Fernroder-Tunnel unter den Bahngleisen, erinnert sich Bruns. Das ist inzwischen zwar anders, macht den Tunnel allerdings immer noch nicht zu einem gastlichen Ort. Obdachlose sieht man heute unterdessen vermehrt am Nordausgang des Bahnhofs liegen. Schon seit Jahrzehnten stranden in Hannover insbesondere viele Menschen aus Osteuropa. Das liege an der Lage auf der Achse Warschau-Amsterdam, sagt Onay und Bruns berichtet aus einer drei Jahre alten Befragung innerhalb der Betroffenengruppe: „Die Obdachlosenszene wird weiblicher, jünger und diverser.“ Und sie wolle mit der Drogenszene nicht in einen Topf geworfen werden. Deshalb achtet die Stadt auch darauf, dass am Ende des Raschplatzes, unterhalb der Hochstraße, keine Drogen mehr öffentlich konsumiert werden. Dort befindet sich der „Kontaktladen Mecki“, eine Anlaufstelle für wohnungslose Menschen. Die Einrichtung platze inzwischen aus allen Nähten, berichtet Onay. Der Bau von „Mecki 2.0“ hat in der nahegelegenen Augustenstraße bereits begonnen, ganz in der Nähe vom Stellwerk.
Bislang verfolgte man in der Stadtverwaltung die Politik, die sozialen Angebote nicht zu zentralisieren. Dass die Obdachlosenszene heute räumlich halbwegs getrennt ist von der Drogen- und der Trinkerszene, ist aus Sicht der Stadtspitze Teil der Lösung. An einer Stelle am Hauptbahnhof lässt sich erahnen, wie konfliktbehaftet die Orte sein können, an denen sich die verschiedenen Gruppen begegnen. Ein solcher Schmelztiegel der Stadt mag der Bereich zwischen dem Drogeriemarkt Rossmann und dem Discounter Lidl sein. Der dortige Anfangspunkt der „Niki de Saint Phalle“-Promenade bildet nicht nur die räumliche Schnittmenge aller drei Szenen, die rund herum ihre angestammten Plätze haben. Zusätzlich befindet sich dort auch die direkte Verbindung von der U-Bahn- zur Bahnhofs-Ebene. Wo zu viel aufeinanderprallt, knallt es schneller. Vor ein paar Monaten wurde genau dort ein Mann niedergestochen.

Verschiedene Anlaufstellen im gesamten Stadtgebiet sollen den Druck aus diesem Areal herausnehmen und Alternativen dazu bieten, den Tag auf dem Raschplatz zu verbringen. Onay weiß aber auch: „Die Gruppe ist nicht frei verschiebbar.“ In der Stadtpolitik wird aktuell der Vorschlag diskutiert, in der jetzigen „Baggi“-Diskothek künftig eine Diakonie-Station zu errichten. Verschiedene soziale Angebote sollen dort gebündelt werden, auch die Straßenzeitung „Asphalt“ könnte dort in irgendeiner Form mit einziehen. Es wäre wohl eine Abkehr vom bisherigen Ansatz der Dezentralisierung. Wie das Areal nördlich des Hauptbahnhofs künftig insgesamt gastlicher gestaltet werden kann, beschäftigt die Stadtverwaltung derweil schon seit längerem. Ein Beteiligungsverfahren ist zu dem Ergebnis gekommen, dass auf den Raschplatz wohl ein Deckel draufkommen soll. „Der Raschplatz hat so nicht funktioniert“, sagt der Oberbürgermeister und erzählt von einem Fahrradparkhaus, das dort in die untere Ebene hineingebaut werden könnte. Bis es so weit ist, wird die Stadt vermutlich in jedem Sommer und jedem Winter den Raschplatz-Kessel wieder zur Sportstätte umbauen. Onay wirkt nicht sonderlich überzeugt von diesem Modell und vergleicht es mit einem Zirkus, der gelegentlich einfliegt: Solange das Angebot da ist, wird der Platz belebt. Doch wenn es wieder vorbei ist, bleiben auch die Menschen nicht da. „Man muss das in der Architektur verankern“, sagt der Oberbürgermeister.

Ein stückweit besser sei das beim Andreas-Hermes-Platz gelungen, meinen die drei Repräsentanten der Stadtverwaltung als die Gruppe die Treppen emporsteigt. Dort, zwischen Kulturzentrum Pavillon, Stadtteilbibliothek, Kindergarten und Intercity-Hotel, hat es im Sommer verschiedene Kulturveranstaltungen gegeben. Diese seien von der dort ansässigen Szene aber auch der angrenzenden Nachbarschaft gut angenommen worden, berichtet Bruns. Ein Anfang. Sichtlich besonders stolz ist die Stadtspitze allerdings auf jenen Kunstgriff, der ihr am nahegelegenen Weißekreuzplatz gelungen ist. Jahrzehntelang war dieser Platz eher eine bessere Hundewiese, unter der Pergola am östlichen Rand der Rasenfläche hielt sich die Trinkerszene auf. Inzwischen hat die Stadt den Platz aufwendig umgestaltet – in Abstimmung mit den verschiedenen Nutzergruppen. An der Südseite stehen Schachtische, an der Nordseite gibt es Gastronomie. Entlang der Lister Meile wurde ein Spielplatz angelegt, auf dem ein Alkoholverbot gilt – die Trinker aber durften ihren Bereich dennoch behalten. Onay nennt die Umgestaltung des Weißekreuzplatzes eine „Erfolgsstory“, Bruns und von der Ohe loben die klare Aufteilung und die zügige bauliche Umsetzung. Der Prozess könne als Blaupause dienen, sind der Oberbürgermeister und der Ordnungsdezernent sich einig. Die verschiedenen Nutzergruppen seien klar benannt und angesprochen worden, die Bedürfnisse erkannt, die Räume klar aufgeteilt. „Es ist mehr ein Nebeneinander als ein Miteinander“, sagt von der Ohe. „Aber ein Nebeneinander mit klaren Regeln.“

Am Ende eines dreiviertelstündigen Gangs durch den Hauptbahnhof Hannover und über die anliegenden Plätze beteuert der SPD-Politiker von der Ohe: „Ich schwöre Ihnen: Nicht mal ein Drittel derjenigen, die wir hier gesehen haben, wäre auch nur theoretisch abschiebbar.“ War die „Stadtbild“-Debatte also überzogen? Den Eindruck gewinnt man nicht, wenn man mit Onay, von der Ohe und Bruns unterwegs ist. Denn „Probleme im Stadtbild“, die gibt es. Manches, das wird dabei deutlich, wird es aber auch in Zukunft noch geben. Obdachlosigkeit, auch infolge von Migration, öffentlicher Drogen- und Alkoholkonsum gehören in einem bestimmten Maße wohl dazu. Diese Menschengruppen aus dem Stadtbild zu verdrängen, hätte vermutlich eher eine Verlagerung in die Wohngebiete zur Folge. Was aber funktionieren kann, scheint eine kluge Aufteilung der vorhandenen Räume zu sein. Was es dafür eher bräuchte als Abschiebungen, seien Ressourcen für die Kommunen, um die Innenstädte entsprechend umzugestalten, meint Hannovers Oberbürgermeister. „Wenn darüber gesprochen wird: sehr, sehr gerne!“, antwortet Onay auf die Frage nach einem Innenstadt-Gipfel im Kanzleramt, den der hannöversche SPD-Vorsitzende Adis Ahmetovic ins Spiel gebracht hatte.


