Haben die Länder Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und die Stadtstaaten Hamburg und Bremen eine Chance, gegenüber den Süddeutschen spürbar aufzuholen? Mit einem klaren Ja beantworten das die Wirtschaftswissenschaftler und Regionalforscher Gerhard Becher, Juliane Bielinski, Arno Brandt und Hans-Ulrich Jung. Die vier Autoren haben einen längeren Beitrag für das „Neue Archiv Niedersachsen“ geschrieben – und sich darin mit der Frage auseinandergesetzt, ob die neue Weltlage nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine auch die Wirtschaftsstrukturen in Deutschland verändern kann.

Können die Nordländer gegenüber dem Süden der Republik aufholen? | Foto: GettyImages/erhui1979

Dabei gehen sie aus von der These, dass die Neuausrichtung der Energiepolitik mit einem starken Fokus auf dem Ausbau der Windkraft Folgewirkungen für die Industrieansiedlung haben wird. Da im Norden das Potenzial zum Ausbau der Windenergie groß sei, vor allem in Küstennähe, könnten sich hier auch die energieintensiven Industrien besser ansiedeln. Die Möglichkeit, in naher Zukunft „grünen Wasserstoff“ zu produzieren, sei hier wegen des nahen Angebots an Windenergie naheliegender als in anderen Gegenden der Bundesrepublik.

Nord- und Süddeutschland entwickelten sich auseinander

Zunächst beginnt die Analyse der vier Autoren mit der Beschreibung des Status quo. Vor allem in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hätten sich Nord- und Süddeutschland deutlich auseinanderentwickelt – zugunsten des Südens. Auch nach der Wiedervereinigung im Jahr 1990 habe sich etwa von 1995 an der Süden als wachstumsstärkster Wirtschaftsraum der Republik erwiesen. Norddeutschland habe dann Anfang der 2000er Jahre kurzfristig Anschluss an den Bundestrend gewonnen, sei dann aber vor allem nach der Wirtschaftskrise 2008 und 2009 wieder zurückgefallen. Der Süden sei in der Zeit sehr dynamisch geblieben und dann gegen 2010 wieder auf den Bundestrend eingeschwenkt. Verglichen wurden die Entwicklung der Wertschöpfung, der Erwerbstätigen und des Arbeitsvolumens.

In den Krisenjahren 2020 und 2021, bedingt durch Corona, sei der Rückgang des Arbeitsvolumens im Süden stärker gewesen als in Norddeutschland. Der Süden werde sehr stark durch das verarbeitende Gewerbe geprägt, also Fahrzeugbau, Maschinenbau, Elektrotechnik und Pharmazeutische Industrie. Autoindustrie gibt es auch in Norddeutschland, ergänzt wird sie durch Schiff- und Flugzeugbau und vor allem die Ernährungswirtschaft. Die „wissensintensiven Industriezweige“ haben im Süden mit fast 15 Prozent aller Beschäftigten einen höheren Anteil als im Norden, wo es nur acht Prozent sind. Der Süden sei stärker auf die internationalen Märkte ausgerichtet, der Norden hingegen stärker an Dienstleistungen orientiert.



Die Wissenschaftler haben auch die Qualifikation der Mitarbeiter verglichen – und kommen zu dem Schluss, dass in Norddeutschland die wenig qualifizierten Helfer überdurchschnittlich vertreten seien. Spezialisten und Experten gebe es dafür stärker in Süddeutschland. Daher sei es nicht verwunderlich, dass die Arbeitsproduktivität im Süden deutlich über der im Norden liege. Die Wertschöpfung je Arbeitsstunde rangiere im Süden um acht Prozent über dem Bundesdurchschnitt, im Norden um ein bis zwei Prozent. Die Arbeitnehmer-Entgelte je Arbeitsstunde hätten in Norddeutschland 2021 rund drei Prozent unter dem Bundesdurchschnitt gelegen, in Süddeutschland um sieben Prozent darüber. Entsprechend höhere Einnahmen aus der Einkommenssteuer habe der Süden auch verbuchen können.

„In Zukunft müssen höhere Investitionen und mehr Innovationen dazu beitragen, die demographisch bedingten Beschäftigungslücken zu füllen.“

Trotz dieses starken Süd-Nord-Gefälles, das sich aber in den vergangenen Jahren auch nicht verstärkt habe, sehen die Autoren für Norddeutschland einen Hoffnungsschimmer. „In Zukunft müssen deutlich höhere Investitionen und mehr und schnellere Innovationen dazu beitragen, die demographisch bedingten Beschäftigungslücken zu füllen“, schreiben sie. Wenn es um Biotechnologie, Pharmazie und Batteriezellen gehe, komme auch der Norden verstärkt in Betracht. Der massive Ausbau der Erneuerbaren Energien werde zu einer neuen Standortbewertung führen – so werde es für ansiedlungswillige Unternehmen attraktiver, sich Orte im Norden auszusuchen. Die norddeutschen Bundesländer müssten stärker auf Fonds-Lösungen zurückgreifen, wenn es um die massiv nötigen Investitionen in die Infrastruktur gehe – und dabei müssten auch die Kommunen einbezogen werden.