Wirtschafts-Expertin Claudia Kemfert warnt vor „Erdgas-Dinosaurier“ im Kreis Peine
Die Pläne für ein Mega-Gaskraftwerk in Hohenhameln-Mehrum (Landkreis Peine) stoßen auf scharfe Kritik von Nachhaltigkeitsforschern und Klimaökonomen. Neben den „Scientists for Future“ (S4F) warnt auch Deutschlands bekannteste Energie- und Wirtschaftsexpertin Prof. Claudia Kemfert vor einem „Erdgas-Dinosaurier“ am Mittellandkanal nahe Sehnde (Region Hannover). „Diese Fehlplanung kann vermieden werden, zumindest brauchen wir eine öffentliche Diskussion dazu“, sagte die Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) bei einem Energieforum der Leuphana-Uni Lüneburg. Der mögliche Kraftwerksbetreiber kann die Einwände der Kritiker nachvollziehen, sagt aber auch: „Unser Handeln ist von der Sorge um die Sicherheit der elektrischen Energieversorgung getrieben.“
Das Vorhaben klingt schon relativ konkret: Die Kraftwerke Mehrum GmbH hat beim Gewerbeaufsichtsamt Braunschweig eine Umweltverträglichkeitsprüfung für ein Gaskraftwerk mit einer Leistungsfähigkeit von bis zu 1,2 Gigawatt (GW) beantragt, um das Steinkohlekraftwerk vor Ort zu ersetzen. „Das entspricht der Größenordnung eines großen Atomkraftwerks“, erläutert Jens Clausen, Leiter des Borderstep-Instituts für Innovation und Nachhaltigkeit an der Hochschule Hannover.
800 MW Abwärme würden komplett verpuffen
Der Maschinenbau-Ingenieur rechnet vor, dass ein solches Kraftwerk nicht nur Strom, sondern auch etwa 800 Megawatt (MW) Wärme produzieren würde. „Das würde ausreichen, um die Fernwärmenetze von Braunschweig und Hannover vollständig zu versorgen. Und danach wäre immer noch Abwärme übrig. Nur kann dies nicht realisiert werden, weil Mehrum zu weit weg von diesen Städten liegt“, sagt Clausen. Er geht davon aus, dass die komplette Abwärme also entweder in die Luft oder den Mittellandkanal abgegeben wird – und damit ungenutzt bleibt.
„Ein Kraftwerk ohne Abwärmenutzung überhaupt noch zu planen, ist aus der Zeit gefallen“, kritisiert Prof. Kemfert. Sie weist darauf hin, dass der Bau eines solchen Kraftwerks in Dänemark verboten wäre, weil dort die Sektorenkopplung bereits gesetzlich vorgeschrieben ist. Und auch in Deutschland könnte laut der DIW-Expertin demnächst ein solches Verbot in Kraft treten, wenn das Energieeffizienzgesetz wie bislang geplant beschlossen wird. Doch was wäre die Alternative? Kemfert und Clausen schlagen vor, nicht ein Megagaskraftwerk auf die „grüne Wiese“ zu bauen, sondern viele kleinere Gaskraftwerke dort zu errichten, wo sie auch einen Beitrag zur Wärmeversorgung leisten können. „Durch Aufteilung des Dinosauriers von Mehrum auf 10 bis 20 Standorte könnten 10 bis 20 Städte mit zirka 1,5 Millionen Einwohnern eine gute Spitzenlastversorgung erhalten“, sagt Clausen.
Betreiber glaubt an Zukunft des Gaskraftwerks
Armin Fieber, Geschäftsführer und Technischer Leiter der Kraftwerke Mehrum GmbH, weist den Dinosaurier-Vorwurf jedoch entschieden zurück. Es sei zwar richtig, dass Abwärme idealerweise zu Heizzwecken genutzt werden sollte. „Heizkraftwerke zur Fernwärmeversorgung erzeugen aber auch nur dann Strom in der Kraft-Wärme-Kopplung, wenn aufgrund der Wetterlage ein Heizwärmebedarf besteht. Versorgungsengpässe in der Stromversorgung treten jedoch unabhängig vom Wärmebedarf auf. Wir sind deshalb der Meinung, dass in der zukünftigen Energieversorgung auch das von uns geplante Gaskraftwerk eine Zukunft hat“, sagt Fieber.
Laut den Planungen des Kraftwerksbetreibers würde das neue Gaskraftwerk aus ein oder zwei schnell startenden Gasturbinen aufgebaut werden. „Es wäre also in der Lage, schnell und häufig auf sich verändernde Stromerzeugung aus Wind und Sonne zu reagieren und somit einen Blackout zu verhindern“, sagt Fieber. Er räumt auch ein, dass in absehbarer Zeit nicht genug grüner Wasserstoff zur Verfügung stehen wird, um damit das Erdgas in Mehrum zu ersetzen.
Außerdem stellt Fieber klar, dass sein Unternehmen zwar einen Vorbescheid für ein Gaskraftwerk mit einer Leistung von 1,2 GW und mit bis zu 6000 Volllaststunden beantragt hat. Das bedeute aber nicht, dass ein Kraftwerk in diesen Dimensionen auch gebaut wird. „Ist die Wirtschaftlichkeit nicht gegeben, wird das Kraftwerk nicht gebaut.“
Umweltminister sieht Pläne kritisch
Im niedersächsischen Umweltministerium sieht man die Pläne für Mehrum kritisch. „Niedersachsen will bis spätestens 2040 klimaneutral sein. Außerdem setzen wir bis 2040 auf die vollständige Umstellung der Energieversorgung auf erneuerbare Energien. Neue fossile Gaskraftwerke passen da grundsätzlich auch angesichts steigender CO2-Preise und des EU-Emissionshandels nicht in die Zeit“, sagt Umweltminister Christian Meyer (Grüne).
Von der fehlenden Abwärmenutzung des Kraftwerks ist man im Umweltministerium erst recht nicht begeistert. Auf das laufende Antragsverfahren für das Gaskraftwerk in Mehrum werde man zwar keinen Einfluss nehmen. „Der Genehmigungsprozess geht streng nach Recht und Gesetz“, versichert Ministeriumssprecherin Jorid Marlene Meya. Da es sich um ein Verfahren nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz handele, werde es jedoch eine „strenge“ Prüfung geben.
Dieser Artikel erschien am 08.09.2023 in der Ausgabe #154.
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