Prof. Martin Betzler (links) ist Präsident der Ingenieurkammer Niedersachsen, Stephan von Friedrichs ist dort als Hauptgeschäftsführer tätig. | Foto: Link

Steigende Baukosten, Fachkräftemangel und strikte Bauvorschriften: Der deutsche Wohnungsbau steckt in einer tiefen Krise. Im Interview mit dem Politikjournal Rundblick erklären Martin Betzler, Präsident der Ingenieurkammer Niedersachsen, und Stephan von Friedrichs, Hauptgeschäftsführer der Kammer, warum darin die zentralen Herausforderungen für die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum liegen. Nach Ansicht der beiden Experten werden innovative Ansätze wie serielles Bauen und flexiblere Bauweisen, die schneller und kostengünstiger realisierbar wären, zu wenig genutzt. Auch der Lebenszyklus von Gebäuden und deren langfristige Nutzung rücke kaum in den Fokus. Ingenieure seien nun besonders gefragt, um innovative und nachhaltige Lösungen für diese komplexe Baukrise zu entwickeln.

Rundblick: Herr Betzler, serielles Bauen ist derzeit in aller Munde. Sehen Sie darin den erhofften Impuls für die Bauwirtschaft?

Betzler: Serieller Hausbau birgt durchaus Potenzial, aber man sollte es nicht überschätzen. Verschiedene Anbieter von Einfamilienhäusern arbeiten ja bereits mit Mustertypen. Das Prinzip ließe sich sicherlich auch auf öffentliche Gebäude wie Schulen übertragen. Der eigentliche Vorteil liegt aber in der Vorfertigung und Verdichtung von Bauelementen im Werk. Allerdings ist diese Bauweise durch die Plattenbauten der 70er Jahre etwas in Verruf geraten. Zudem ändern sich die Anforderungen an Gebäuden oft, was die Standardisierung erschwert. Und man muss dann natürlich auch gucken, wo die Bauteile herkommen und wo sie produziert werden, ansonsten wird es wieder ökologisch schwierig.

Rundblick: Wo sehen Sie dann die Stellschrauben für eine effizientere und nachhaltigere Bauwirtschaft?

Betzler: Wir müssen wieder einfacher bauen lernen – nicht schlechter, sondern realistischer. Die energetischen Anforderungen wurden zeitweise überzogen und verteuern den Neubau extrem. Ein Standard von KfW 70 wäre in vielen Fällen ausreichend. Viel wichtiger ist es, den Gebäudebestand energetisch zu sanieren. In Hannover werden beispielsweise noch 60 Prozent der Gebäude mit Gas beheizt, davon 80 Prozent mit veralteter Technologie. Hier sollten verstärkt Anreize geschaffen werden. Auch bei Neubauten ließen sich Kosten sparen, indem man auf überteuerte Standards wie Fußbodenheizung verzichtet und stattdessen wieder größere Heizkörper einsetzt. Durchlaufende Wände und eine Reduzierung des Schallschutzes würden ebenfalls zu günstigeren Konstruktionen führen.

Rundblick: Stichwort Schallschutz: Deutschland gilt ja als besonders klagefreudig.

Betzler: Ja, leider. Die Gerichte entscheiden oft zugunsten der Kläger, was Bauträger und Architekten dazu veranlasst, beim Schallschutz auf Nummer sicher zu gehen. Dadurch entstehen oft unnötig dicke und teure Decken. In der Vergangenheit wurde bei Gerichtsentscheidungen immer der erhöhte Schallschutz als Maßstab zugrunde gelegt. Da ist es wichtig, dass man eine entsprechende gesetzliche Grundlage schafft.

Rundblick: Welche Rolle spielen dabei ökologische Gesichtspunkte?

von Friedrichs: Der Lebenszyklusgedanke wird bei der Vergabe von Bauaufträgen noch viel zu wenig berücksichtigt. Wir müssen uns fragen, woher die Baustoffe kommen, wie sie verbaut werden und welche Recyclingfähigkeit das Gebäude später hat. Laut Monitoringbericht werden zirka 90 Prozent der mineralischen Abfälle in Deutschland wiederverwertet, was da aber tatsächlich passiert ist Downsizing, weil ein Großteil als Verfüllung genutzt wird oder im Straßenbau landet. In der Regel entsteht daraus aber kein neuer Baustoff wie zum Beispiel Beton. Die Recyclingquote von Beton ist in Deutschland unheimlich schlecht. Nur ein Prozent des Abbruchbetons wird zu neuem Beton verarbeitet. Diese Quote gilt es deutlich zu steigern, in dem etwa bei öffentlichen Bauvorhaben Recyclingbaustoffe verstärkt ausgeschrieben werden. Länder wie die Niederlande oder die Schweiz sind da deutlich weiter.

Rundblick: Welche Baustoffe eignen sich denn besonders gut für ressourcenschonendes Bauen?

von Friedrichs: Natürlich denkt man da immer zuerst an Holz. Der WWF hat aber in einer Studie 2022 festgestellt, dass wir weltweit schon mit 4,3 bis fünf Milliarden Kubikmetern pro Jahr mehr Holz verbrauchen, als weltweit nachwächst. Beton ist durch seine Recyclingfähigkeit besser als sein Ruf. Beim Urban Mining wird Abbruchbeton vor Ort direkt zu neuem Beton verarbeitet. Außerdem ist Beton ein sehr langlebiger Baustoff und damit auch nachhaltig. Allerdings gibt es bei der Zementherstellung deutliches Optimierungspotenzial, was die CO2-Bilanz angeht.

Betzler: Auch mit Beton lässt sich materialsparend bauen. Hohlkörperdecken machen die Decken leichter. Und durch intelligente Konstruktionen kann man ebenfalls Beton einsparen. Man denke nur an die schalenartigen Bauwerke der 60er und 70er Jahre.

Rundblick: Warum hat man diese Bauweisen in den letzten Jahren vernachlässigt?

Betzler: Man hat sich beim Entwerfen zu viele Freiheiten genommen und die Auswirkungen auf die Konstruktion vernachlässigt. Das Motto war: Der Tragwerksplaner wird es schon hinrechnen. Dabei sind einfache Konstruktionen oft die günstigsten. In den 90er Jahren waren die Decken 16 Zentimeter dick, das war der Standard. Heute gibt es eigentlich nichts mehr unter 20 bis 22 Zentimetern.

„In anderen Ländern lebt man mit deutlich dünneren Decken und Wänden. Warum können wir das in Deutschland nicht?“

von Friedrichs: In anderen Ländern lebt man mit deutlich dünneren Decken und Wänden. Warum können wir das in Deutschland nicht? Auch die Frage, ob Kabel über Putz verlegt werden können oder statt 12 auch vielleicht nur sechs Steckdosen im Raum ausreichen, muss erlaubt sein. Hier kann der neue Gebäudetyp „E“ eine echter Gamechanger werden.

Rundblick: Welche weiteren Innovationen sehen Sie im Bereich des ökologischen Bauens?

Betzler: Photovoltaik-Anlagen könnten zukünftig auch zur Abdichtung von Dächern genutzt werden. Das würde Kosten für Ziegeldächer sparen. Auch die Integration von Photovoltaik in Fassaden bietet gestalterische Möglichkeiten.

Stephan von Friedrichs (von links) und Martin Betzler im Gespräch mit Christian Wilhelm Link. | Foto: Ingenieurkammer

Rundblick: Mit Blick auf den Fachkräftemangel: Wie steht es um den Ingenieurnachwuchs?

Betzler: Die Lage ist schwierig. Viele erfahrene Ingenieure gehen in den Ruhestand, und es kommt nicht genug Nachwuchs nach.

von Friedrichs: Wir brauchen mehr Absolventen, aber auch mehr Dozenten an den Hochschulen. Die Besetzung von Lehrstühlen wird immer schwieriger.

Betzler: Die Berufungsverfahren sind extrem aufwendig und die Anforderungen an die Bewerber hoch, während die Bezahlung eher moderat ist.

Rundblick: Auch die Baubehörden brauchen qualifizierte Ingenieure. Ist der öffentliche Dienst attraktiv genug?

„Wir würden es begrüßen, wenn mehr Ingenieure in den Behörden und in leitenden Positionen tätig wären.“

Betzler: Das ist schwer zu sagen. Grundsätzlich würden wir es begrüßen, wenn mehr Ingenieure in den Behörden und in leitenden Positionen tätig wären.

Rundblick: Wie stehen Sie zur neuen Bauordnung in Niedersachsen?

Betzler: Niedersachsen ist damit einen mutigen Schritt nach vorne gegangen, was wir absolut begrüßen. Das ist aber noch nicht das Ende vom Lied, man muss jetzt in einen Abstimmungsprozess mit 15 anderen Ländern treten. Man versucht auch eine Musterbauordnung zu schaffen, an die sich die Bauverordnungen der Länder halten sollen. Das ist aber ein langsamer und schwieriger Prozess. Da geht es zum Beispiel ganz praktisch um die Frage der Vorlageberechtigung beim Bauantrag. Wir sind froh, dass Niedersachsen hier konsequent geblieben ist.

Rundblick: Es gibt aber auch europarechtliche Bedenken, ob es in Ordnung ist, dass das Einreichen eines Bauantrags in Niedersachsen auf einen bestimmten Experten beschränkt wird. Wie gehen Sie als Kammer damit um, dass immer mehr Ingenieurstätigkeiten von anderen Berufsgruppen ausgeführt werden sollen?

von Friedrichs: Die Bauvorlageberechtigung sollte immer in der Hand von Experten bleiben. Wahr ist aber auch, dass praktisch jeder, der sich dazu berufen fühlt, Planungsleistungen anbieten kann –unabhängig von der Qualifikation. Das kann nicht das sein, was wir im Baubereich wollen. Insbesondere wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich der Staat immer mehr als Kontrollinstanz zurückzieht und wir gleichzeitig viel mehr Wert auf Sicherheit, Ressourcenschonung und Energieeffizienz legen.

Betzler: Das ganze Planungs- und Baugeschäft wird immer komplexer und schwieriger. Insbesondere mit den neuen vereinfachten Regelungen braucht es wirklich erfahrene Verfasser, die einschätzen können: Was ist machbar, was ist nicht machbar? Deswegen ist uns der Berufsrechtsvorbehalt auch so wichtig. Das ist ein etwas schwülstiger Begriff, aber es gibt eben gewisse Dinge, die nur durch Ingenieure geplant und ausgeführt werden sollten. Beim Berliner Flughafen war es etwa so, dass die Planungsarbeiten zum Teil von nicht qualifizierten Personen erbracht wurden.

von Friedrichs: Wir brauchen qualifizierte Planer und sollen gleichzeitig Verbraucherschutz betreiben. Und wenn man das sicherstellen will, dann muss man als Gesetzgeber im planenden Bereich die Mitgliedschaft in einer Kammer auch verpflichtend machen, so wie das bei anderen freien Berufen auch der Fall ist. Keiner stellt diese Vorgehensweise bei Rechtsanwälten, Ärzten oder Architekten infrage. Diese Qualitätssicherung, die die Kammer durch Überwachung der Berufspflichten und der Fortbildung bietet, die kann es aber nicht zum Nulltarif geben.