Dass die Polizei einen Streifenwagen mit zwei Beamten auf dem Parkplatz gegenüber dem Eingang zur Villa Seligmann in Hannovers Oststadt postiert, gehört inzwischen seit einiger Zeit schon zum gewohnten Stadtbild. Doch etwas war am vergangenen Montagabend anders für die Besucher des Hauses. An der Eingangstür der opulenten Jugendstilvilla, in der einst Siegmund Seligmann, der jüdische Direktor der Continental AG, und seine Familie wohnten und jetzt das jetzt als „Haus für gelebte jüdische Kultur“ verstanden wird, wurden die Taschen der Gäste vorm Einlass kontrolliert. Vom Aufwand her noch weit entfernt von einer Flughafenkontrolle, aber doch mehr als noch vor wenigen Wochen üblich war.

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„Wir haben uns zu dieser Maßnahme entschlossen, nicht weil wir uns nicht sicher fühlten“, sagte der Direktor des Hauses, Eliah Sakakushev-von Bismarck, und betonte das „wir“ im zweiten Teil des Satzes. „Wir haben uns dazu entschlossen, weil wir Anfragen hatten, wie es um die Sicherheit bestellt ist. Weil Teilnehmer abgesagt haben, weil sie sich hier nicht mehr sicher fühlen – an diesem Ort jüdischen Lebens.“ Man selbst, versicherte er, fühle sich „in sehr guter Gesellschaft umarmt“. Zu Gast waren an diesem Abend etwa Niedersachsens Kultur-Staatssekretär Joachim Schachtner, der Antisemitismusbeauftragte Gerhard Wegner oder Hannovers Kulturdezernentin Konstanze Beckedorf.

Anne Gemeinhardt, Ralf Meister, Christoph Dahling-Sander und Konstanze Beckedorf im Gespräch mit Niedersachsens Antisemitismusbeauftragten Gerhard Wegner. | Foto: Jens Schulze

Zum siebten Mal hat Hannovers evangelischer Landesbischof Ralf Meister am vergangenen Montag, dem Vorabend des Reformationstags, zum jüdisch-christlichen Dialog geladen. Die Idee entstand im Jahr 2017, als die gesamte Republik das 500. Jubiläum von Martin Luthers Thesenanschlag feierte. Für Meister, der nicht nur Bischof der größten Gliedkirche der EKD, sondern als Vorsitzender der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland (VELKD) auch so etwas wie der oberste Botschafter des Luthertums im Lande ist, war der Blick auf die Schattenseiten des großen Reformators wichtig.

Denn Luther forderte schließlich nicht nur wortgewaltig zur Umkehr der in seinen Augen vom rechten Pfad abgekommenen Kirche in Rom auf. Er nutze sein rhetorisches Talent und seine Schriftgelehrtheit auch, um seinen tief empfundenen Judenhass zu predigen. Das Gesprächsformat, das Bischof Meister damals in ruhigeren Zeiten mit Alt-Rabbiner Gábor Lengyel initiierte, bot in diesem Jahr nun einen Raum, um über die aktuelle Bedrohung für das Judentum seit dem Terror-Überfall der Hamas am 7. Oktober zu sprechen.

Oder sagen wir: die Veranstaltung bot einen Ort, denn um dieses Thema sollte es ursprünglich gehen, als sich Ralf Meister und der Generalsekretär der Hanns-Lilje-Stiftung, Prof. Christoph Dahling-Sander, im Sommer zur Planung mit ihren Mitstreitern getroffen hatten. „Orte machen Menschen“ war die Veranstaltung überschrieben und man wollte gemeinsam über die Bedeutung religiöser Orte sprechen. Doch die aktuellen Ereignisse in Nahost machten es zwingend erforderlich, über mehr zu reden, das Thema deutlich weiter zu öffnen. Schließlich ist die gesamte Reihe überschrieben mit: „Was gesagt werden muss“ – ein Satz, den man dieser Tage häufig in Überschriften von Kommentaren lesen kann.

„Mein Platz wäre jetzt eigentlich in Israel.“

Deutliche Worte wählte deshalb gleich zu Beginn Alt-Rabbiner Lengyel, der um einen Impulsvortrag zum Thema gebeten worden war. Er entschied sich jedoch, seine Rede nicht primär den Orten religiösen Lebens zu widmen, sondern dem Krieg in Israel: „Es ist für mich äußerst schwer, fast unmöglich, hier zu sein“, setzte der 82-Jährige an. „Mein Platz wäre jetzt eigentlich in Israel“, erklärte er und führte aus, dass „seine Armee“ gerade ganz Gaza bombardiere. „Als ehemaliger israelischer Soldat und Reservist bin ich heute nicht in der Lage, über Orte zu reden.“ Seit Tagen sitze er am Laptop und verfolge auf verschiedenen Nachrichtenseiten, wie sich die Lage seit dem 7. Oktober entwickle, und man merkte, wie schwer es ihm fallen muss, das alles stillsitzend zu ertragen und die Passivität auszuhalten. Als 1967der Sechstagekrieg ausgebrochen war, habe er sich unverzüglich in Bonn als Reservist gemeldet, erzählte er und fragte: „Melden sich die Jüdinnen und Juden in Hannover jetzt auch?“

„Erwartet von mir keine Friedensgebete“, sagte Gábor Lengyel, Seniorrabbiner der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover. | Foto: Jens Schulze

Lengyel fasste seine Sorgen um die Zukunft Israels in jede Menge Fragen, beschrieb den „Angstzustand für alle Juden weltweit“, sah die Sympathie für Israel international bröckeln und ließ die Anwesenden wissen: „Erwartet von mir keine Friedensgebete!“ Er forderte auf, auf die eigenen Worte zu achten, sich selbst zu hinterfragen, welche Hintergründe man noch besser verstehen müsse. Und er sagte, dass man nun „Stärke, Humanität und Geist dem Bösen entgegensetzen“ müsse.

Von Politik, Kirche, Kultur und Einzelpersonen forderte der frühere Unternehmer, der 1941 in Budapest geboren wurde, praktische Hilfe zu leisten. „Solidarität und Reden tun uns gut, aber das reicht nicht.“ Als Beispiel führte er an, dass man „Hilfsaktionen in Form von großen Geldspenden sofort einleiten“ sollte, und im Sinne der Ausgewogenheit zugleich auch für die 10.000 Unschuldigen im Gaza-Streifen. Am Ende seines Impulses bekannte er: „Ich werde mich weiter für die Verständigung einsetzen, selbst nach Israel fahren und meinen mini-kleinen Beitrag zur Versöhnung leisten.“

„Musik ist auch eine Dimension, um mit den Tragödien dieser Zeit umzugehen.“

Auf Lengyels kämpferischen wie besorgten Impuls antwortete zunächst Eliah Sakakushev-von Bismarck, für einen, wie Dahling-Sander es nannte, „innerjüdischen Dialog“. Der Direktor des Hauses, das auch das „Europäische Zentrum für jüdische Musik“ beherbergt, sprach über die Bedeutung der Musik für das jüdische Selbstverständnis. „Musik ist mehr als Sprache, sie ist auch eine Dimension, um mit den Tragödien dieser Zeit umzugehen.“ Die Musik sei wie ein inneres Gebet, sagte der studierte Cellist: Sie könne die Kraft erwecken, mit dem umzugehen, wofür man keine Antwort habe.

Eliah Sakakushev-von Bismarck wünscht sich Orte der Selbstvergewisserung. | Foto: Jens Schulze

In Bezug auf das ursprüngliche Thema der Veranstaltung postulierte er die These, dass es Orte brauche, um genau diese Dimension zu finden – und das seien Synagogen, Kirchen oder auch die Villa Seligmann. „Orte, die uns bestärken, die für die Gemeinschaft wichtig sind. Orte, die das Selbstbewusstsein stärken.“ Als breite Gesellschaft müsse man sich fragen, „ob wir diese Orte ausreichend haben und genügend stärken“. Im Rückblick auf die Kundgebung in Hannover nach dem Angriff der Hamas, auf der „gute und nicht so gute Reden“ gehalten worden seien, stellte Sakakushev-von Bismarck die Frage: „Aber warum haben wir da keinen Psalm gesprochen?“ Obwohl drei Rabbiner und zwei Bischöfe dort gewesen seien, sei es nicht dazu gekommen, dass ein trostspendendes Gebet angestimmt wurde.

Die Frage griff Landesbischof Meister auf und erläuterte, dass man schlicht nicht gefragt worden sei. Die Kirche sei nicht der Veranstalter gewesen, deshalb habe man es nicht von sich aus gemacht. Bemerkenswert war dieses Bekenntnis des Zurücksteckens der Religionen vor den weltlichen Organisatoren, die die Demonstration angemeldet hatten, vor dem Hintergrund dessen, was Meister danach sagte. „Säkulare aber auch religiöse Gesellschaften brauchen Orte der Selbstvergewisserung“, setze er an und erläuterte, dass gerade auch der säkulare Staat auf diese Formen des Ethos angewiesen sei. Wer wollte, konnte hier wohl das Böckenförde-Diktum heraushören, wonach der Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren kann. „Über-säkulare Staaten, die das nicht aushalten konnten, haben religiöse Orte zerstört“, sagte Meister und führte beispielhaft die Sowjetunion an.

Landesbischof Ralf Meister rügt die sozialen Netzwerke als Missbrauchsinstrumente. | Foto: Jens Schulze

Kritik äußerte Meister auch an seinen eigenen Glaubensbrüdern. Dass der Lutherische Weltbund, also der internationale Zusammenschluss lutherischer Kirchen, nicht in der Lage sei, den Terror der Hamas als solchen zu verurteilen, prangerte der Bischof ebenso an wie die sprachliche Ungenauigkeit, vom „Heiligen Land“ zu sprechen, wenn Israel gemeint sei. „Wenn Orte gesichert werden sollen, dann müssen sie auch als solche klar benannt werden.“ Bei konstruierten, erzählten Räumen wie nun dem „Heilige Land“ werde es aber gefährlich. Ebenso konstruiert ist der nächste Raum, den Meister in seinem Wortbeitrag anführte: die medialen Welten. Derzeit werden die „sozialen Netzwerke“ missbräuchlich verwendet: Es werde mit der tiefen Sehnsucht nach Orten der Sicherheit gespielt und zugleich seien die digitalen Orte zum „größten Missbrauchsinstrument“ geworden, wenn dort Bilder der Hamas-Gräueltaten verbreitet werden.

Eine andere Dimension brachte Anne Gemeinhardt, die neue Direktorin der Museen für Kulturgeschichte Hannover, in die Debatte mit ein. Die Expertin für jüdische Geschichte zeigte anhand dreier Orte zu drei verschiedenen Zeiten auf, wie jüdisches Leben in Deutschland nach 1945 ausgesehen haben kann: Saarbrücken, wo sich 1951 die erste jüdische Gemeinde aus französischen Exilanten ansiedelte; Frankfurt am Main, wo 1988 die jüdische Gemeinde mit der ältesten Tradition auf deutschem Boden zu neuem Selbstbewusstsein fand; und München, wo 2006 mit dem Jakobsplatz ein neuer, moderner Ort jüdischen Lebens inmitten der Stadt begründet wurde.

Anne Gemeinhardt, Direktorin der Museen für Kulturgeschichte Hannover, beklagt die Kürzungen in der politischen Bildung. | Foto: Jens Schulze

Gemeinhardt, die Museen zwar nicht als religiöse aber als vermittelnde Orte versteht, verband ihre Ausführungen mit einer Kritik. „Viele haben jüdische Kultur in der Schule nur im Zusammenhang mit der Shoah kennengelernt“, kritisierte sie und fügte an, dass die politische Bildung, die Wichtiges für das Verständnis leiste, gerade erst wieder die Mittel gekürzt kriegen soll. „Nach dem 7. Oktober sagen wieder alle, wie wichtig die politische Bildung ist. Gleichzeitig kämpfen tolle Bildungsinitiativen um die Weiterführung ihrer Projekte. Da passt doch etwas nicht zusammen.“

Was brauchen also die religiösen Orte? Brauchen sie Solidarität, fragte Dahling-Sander abschließend. Es war dann Museumdirektorin Gemeinhardt, die auf diese Frage hin den Bogen zum Anfang der Veranstaltung schlug und damit einen Rahmen spannte. In Bezug auf die Gäste, die lieber fernblieben, sagte sie: „Aus einer Komfortzone heraus zu denken, hier jetzt nicht hinzugehen, ist ein sehr trauriges Zeichen.“