
Während die Virologen noch streiten, ob die Corona-Pandemie bereits vorbei ist, ist die Situation für Verkehrsplaner klar: Das Verkehrsaufkommen in der Bundesrepublik hat nicht nur das Niveau von 2019 erreicht, es liegt sogar darüber. Die Straßeninfrastruktur in den niedersächsischen Städten ist so überlastet wie eh und je. 2022 verloren die Autofahrer in Hannover durch den Stau im Berufsverkehr durchschnittlich 30 Stunden pro Jahr. Dahinter folgen Göttingen (25 Stunden), Hildesheim (22), Wolfsburg (20) und Braunschweig (19). Zu diesem Ergebnis kommt das US-amerikanische Verkehrsanalyseunternehmen Inrix, das für seine „Global Traffic Scorecard“ anonymisierte Datensätze aus Telefonen, Fahrzeugen und Städten auswertet.
Im Vergleich mit anderen großen Städten steht Niedersachsen dabei zwar noch ganz gut dar, der deutsche Autofahrer steht durchschnittlich 40 Stunden pro Jahr im Stau. Doch der Handlungsbedarf wird auch zwischen Cuxhaven und Hann. Münden immer dringender. Denn wer die Verkehrswende ernst nimmt, muss anderen Mobilitätsformen mehr Platz in den Innenstädten einräumen. Für die Kommunen ist das eine riesige Herausforderung, für innovative Unternehmen aber auch eine große Chance. Einige vielversprechende Lösungsansätze für dieses Problem und Ideen für die Mobilität der Zukunft aus Niedersachsen gab es kürzlich beim „Mobility Startup Day“ in Hildesheim zu sehen. Hier eine kleine Auswahl:
Mikromobilität für Handwerker

Ein Eckpfeiler der Verkehrswende besteht darin, den motorisierten Individualverkehr nach und nach aus den Innenstädten heraus zu drängen. Doch auch die autofreie Innenstadt kommt nicht ohne Lieferverkehr aus und muss irgendwie für Handwerker erreichbar bleiben. „Wir brauchen Logistikkonzepte, die integriert denken und die den Transportbedarf minimieren“, lautet der Lösungsansatz von Wirtschafts- und Verkehrsminister Olaf Lies (SPD). Dieses Geschäftsmodell verfolgt das Startup „Modes“, das Nullemissionsfahrzeuge für die Logistik der letzten Meile umrüstet. Dabei werden Lastenfahrräder zu mobilen Werkstattlagern, Elektro-Kabinenroller zu Kleintransportern und elektrische Nutzfahrzeuge zu fahrbaren Imbissbuden.
„Wir arbeiten mittlerweile für fast alle Cargobike-Hersteller“, verrät Vertriebschef Aris Diamantidis. Bei Lieferdiensten sind die Sonderfahrzeuge von „Modes“ schon heiß begehrt. Nun will das Startup, hinter dem die European Van Service GmbH (EVS) aus Hannover-Linden steckt, das Handwerk für die neue Form der Logistik begeistern. „Unser E-Lastenrad für den Handwerksbetrieb um die Ecke ist noch sehr neu auf dem Markt. Es kommt aber so langsam bei den kleinen, mittelständischen Unternehmen an“, sagt Diamantidis. Wer es etwas bequemer haben möchte, kann hier auch ein Multifunktions-Elektrofahrzeug mit Fahrerkabine bestellen. Der Sevic V500e hat eine Reichweite von bis zu 300 Kilometern, trägt eine Zuladung von bis zu 676 Kilogramm und schafft auch vollbeladen noch bis zu 70 Stundenkilometer.
Abkehr vom Individualverkehr wird belohnt
Der Akzent verrät René Schrader eindeutig als Österreicher. Doch was hat den CEO des Tiroler Startups „Ummadum“ zum Mobility Day nach Hildesheim verschlagen? „Mittlerweile sind wir auch hier in Hannover ansässig und wollen nun den deutschen Markt beglücken“, verrät Schrader. Der Einstieg dürfte nicht allzu schwerfallen, denn das Konzept aus Innsbruck bedient gleich mehrere aktuelle Trends. Als „spielerisches CO2-Reporting“ beschreibt Schrader seine Smartphone-App, mit der Unternehmen und Kommunen ihre Mitarbeiter beim Pendeln zum Job zu mehr Klimafreundlichkeit animieren können. „Mitarbeiter-Mobilität kann je nach Branche über die Hälfte des CO2-Verbrauchs eines Unternehmens ausmachen“, weiß der Geschäftsführer.
Bei „Ummadum“ werden die Beschäftigten für jeden nachhaltig zurückgelegten Kilometer mit Punkten belohnt, die dann in Geschäften eingelöst werden können. Punkte gibt es für jede Radfahrt, jeden Fußweg und jedes Carsharing. Die Gutscheine bezahlt der Arbeitgeber, für den sich das Mitmachen ebenfalls lohnt. Das von den Mitarbeitern eingesparte CO2 fließt nämlich in den Nachhaltigkeitsbericht der Unternehmen ein, was laut Schrader spätestens ab Inkrafttreten der neuen Europäischen Nachhaltigkeitsberichterstattungsstandards (ESRS) ab dem 1. Januar 2024 auszahlen wird.
Frischer Wind für den ÖPNV

„Es wird oft darüber gesprochen, wie die Raumluft in den Klassenräumen ist. Aber niemand redet darüber, welche Qualität die Raumluft in den überfüllten Bussen hat, die die Schüler zur Schule bringen“, sagt Dean Ćirić vom Startup „airooom“. Die Ausgründung der Technischen Universität (TU) Braunschweig hat einen Sensor entwickelt, der die Raumluft misst, die Daten abgleicht und dann Handlungsempfehlungen gibt. „Wir sind seit anderthalb Jahren auf dem Markt und haben 500 Millionen Daten gesammelt“, sagt Ćirić.
Als „Infektionsschutz-Ampel“ ist das System bereits in etlichen Schulen, Kitas oder Bibliotheken in Niedersachsen im Einsatz. Die mobile Variante wurde bereits in Bussen und auch bei der Braunschweiger Taxizentrale erprobt. „Die sichtbare Luftkontrolle sorgt dafür, dass sich die Kunden in diesen Taxis lieber aufhalten als in anderen“, fasst Ćirić die Erkenntnisse des Pilotprojekts zusammen. Der Sensor misst neben der Luftfeuchtigkeit unter anderem auch den CO2-Wert, Luftgeschwindigkeit, Lautstärke und Raumtemperatur. Das hilft laut dem „airooom“-Gründer nicht nur beim Infektionsschutz, sondern auch dabei, die Reichweite von Elektroautos zu steigern. Außerdem werde die Innenluft-Kontrolle zukünftig immer wichtiger, denn Ćirić weiß: „Beim autonomen Fahren ermüden die Menschen schneller.“

Zweites Leben für Autobatterien
Der Bedarf an Lithium-Ionen-Batterien für Elektroautos wächst und wächst. Im Jahr 2027 rechnen Experten damit, dass weltweit mehr als 15 Milliarden Einheiten verkauft werden. Doch was passiert eigentlich mit den Akkus, die für den Einsatz im Auto nicht mehr leistungsfähig genug sind? Häufig haben diese Batterien nach mehreren tausend Ladezyklen und Ablauf der Garantie noch einen Energiegehalt von mindestens 70 Prozent. Sie in diesem Zustand zu entsorgen, wäre viel zu schade. Deshalb hat sich das Startup „LB Systems“ darauf spezialisiert, den Batterien ein zweites Leben zu schenken. Die Braunschweiger haben ein Verfahren entwickelt, mit dem der Zustand der Energiespeicher schnell und zuverlässig getestet werden kann. Was früher Stunden gedauert hat, ist durch die Innovation der Absolventen der TU Braunschweig nun in Sekundenschnelle möglich.
„Bisher haben wir über vier Megawattstunden Batterien geprüft und für unsere Kunden zusammengestellt“, berichtet CEO Carina Heidermann. Das junge Technologieunternehmen ist sich seiner Sache dabei so sicher, dass es für die Batterien auch Gewährleistung und Produkthaftung übernimmt. Abnehmer für diese Akkus sind zum Beispiel Industrie und Stromerzeuger, die die Module für große Energiespeicher verwenden, um die Netzstabilität zu regulieren oder einfach Strom zu speichern.
„Das spart viel Energie und auch Rohstoffe. Eine hervorragende Innovation für die ganze Automotive-Region und den Energiewendestandort Niedersachsen, der dadurch ein Stück weit unabhängiger wird“, lobte Umweltminister Christian Meyer bei der Vergabe des niedersächsischen Klima-Innovationspreises 2022 an LB Systems. Das Preisgeld von 10.000 Euro können Heidermann und ihr Mitgründer Lasse Bartels gut gebrauchen. Ziel ihres Startups ist es, neue Speicherlösungen zu entwickeln und in den nächsten Jahren 80 Arbeitsplätze zu schaffen. Außerdem verrät Heidermann: „In Zukunft wollen wir auch ausbilden. Wir haben nämlich gemerkt, dass wir nicht viele Hochvolttechniker in Deutschland haben und das wollen wir ändern.“
3D-Sound fürs Auto

Die Sennheiser-Gruppe, die ihren Hauptsitz in der Wedemark bei Hannover hat, gehört in der Audiotechnik zu den führenden Unternehmen weltweit. Sennheiser-Mikrofone werden sowohl von Privatleuten als auch von den Topstars der Musikbranche genutzt. „Wir haben auch die weltbesten Kopfhörer auf den Markt gebracht. Die sind zwar teuer, aber das lohnt sich auch“, meint 3D-Klangexperte Henrik Oppermann, der „Head of Sound“ bei der Sennheiser-Partnerfirma „Visualise“. „Wir sind praktisch eine Startup-Konstruktion innerhalb der großen Corporation“, beschreibt Oppermann die Zusammenarbeit zwischen den beiden Firmen. Das lohne sich für beide Seiten: Sennheiser profitiert von der Innovationskraft eines Startups, „Visualise“ kann auf die Erfahrung und Marktmacht eines etablierten Unternehmens zurückgreifen.
Es ist ein Geschäftsmodell, das auch bei anderen wichtigen Playern der Automobilbranche wie Tönnjes oder Bosch immer beliebter wird. „Gerade in der Mobility-Sparte braucht man eine große finanzielle Schlagkraft“, weiß Oppermann. Mit Sennheiser im Rücken will der Audioexperte den aus dem Kino bekannten Raumklang auch im Auto möglich machen. Wie das klingt, zeigt Oppermann in Hildesheim in einem Prototypen. Vor allem im oberen Bereich sind dort zahlreiche zusätzliche Lautsprecher verbaut, die das Auto bei der Klangqualität auf Konzerthallen-Niveau heben.
Weil die 3D-Soundinstallation auf die Insassen ausgerichtet ist, tönt selbst bei maximaler Lautstärke kaum etwas nach draußen. Und auch das Telefonieren während der Fahrt erhält nochmal einen kräftigen Qualitätsschub. Ausgerechnet die heimischen Autobauer haben an dem Premium-Soundsystem des niedersächsischen Audiotechnik-Konzerns allerdings noch kein Interesse gezeigt. Wer das neue „Ambeo Mobility Sound System“ testen will, kann das bislang nur in einem Volvo machen.