Wie Sigmar Gabriel sein politisches Vermächtnis in Goslar hinterlässt
Plötzlich wird er laut, beinahe eindringlich. Sigmar Gabriel, der Ehrengast des Treffens der Goslarer SPD, hatte erst staatsmännisch und zurückhaltend gesprochen, ganz wie ein Außenminister auf diplomatischer Mission. Dann aber, nach einer guten Stunde, bricht die ganze Leidenschaft aus ihm heraus.
Etwa 130 Sozialdemokraten sind im „Berufsförderungswerk“ zusammengekommen, einer Einrichtung, in der sonst Menschen für neue Arbeitsplätze vorbereitet werden sollen. Es geht um den Koalitionsvertrag und die Abstimmung, an der sich die Genossen bundesweit noch bis Ende dieser Woche beteiligen können. Tatsächlich aber bewegt die vorwiegend älteren Leute, die den Weg hierher gefunden haben, vor allem eine Frage: Wird ihr prominentestes Ortsvereinsmitglied, Sigmar Gabriel, auch künftig noch eine Rolle in der Bundespolitik spielen? Muss der 58-Jährige für einen neuen Beruf qualifiziert werden, wenn er seinen jetzigen doch – nach Ansicht der meisten Anwesenden – perfekt ausfülle?
Gabriel lässt seinem Ärger freien Lauf
Gabriel selbst spielt seine eigene Bedeutung zunächst geschickt herunter. „Man geht doch in die Politik nicht für sich selbst, sondern deshalb, damit es den Leuten besser geht.“ Dann aber, als die Diskussion schon fortgeschritten ist und Verdi-Gewerkschaftssekretär Frank Ahrens eine lange Liste an angeblichen Mängeln im Koalitionsvertrag vorgetragen hat, verliert Gabriel plötzlich seine selbstauferlegte Jovialität. Als habe er nur auf die kritischen Hinweise gewartet, lässt er seinem Ärger freien Lauf. Seine Stimme klingt beschwörend. Er bitte die SPD dringend, „nicht immer voll an den Leuten vorbei zu reden“. Jede Kritik an der Flüchtlingspolitik gleich als rassistisch abzutun, sei verhängnisvoll. Bei einem Urlaub auf Usedom habe er gemerkt, dass nicht jeder, der AfD wähle, ein Rechtspopulist sei.
Wenn nach Amtsgericht, Schule, Finanzamt und Geburtshilfestation noch das ganze Krankenhaus schließe, wollten die Menschen dagegen protestieren – und sie wählten dann nicht die Linkspartei, die schon den Landrat stelle, sondern eben AfD. „Macht es Euch nicht zu einfach mit den Erklärungen“, donnert Gabriel ins Mikrophon. Die SPD habe den Kontakt zum Lagerarbeiter und Gabelstaplerfahrer verloren, sie habe zwei Jahre lang erbittert über das Freihandelsabkommen mit Kanada gestritten – „aber wie viele Wähler hat das wirklich interessiert?“ Als dann 2015 die vielen Flüchtlinge kamen, hätten ihm in manchen Stadtteilen viele Wähler gesagt: „Für die habt ihr alles, für meine Rente reicht es nicht.“ Aber wenn er dann versucht habe, diesen Leuten nur zuzuhören – etwa beim Besuch der Diskussionsrunde mit Pegida-Anhängern in Dresden – sei er in der SPD dafür „nur verprügelt worden“. Die SPD, meint er, drücke sich vor diesem Thema, aber „bei den Menschen ist die Verunsicherung nach wie vor groß“.
Wir stehen geschlossen hinter Sigmar!
Petra Emmerich-Kopatsch
Es geht noch weiter. Gabriel wendet sich direkt an den Ahrens, und seine Stimme wird jetzt noch energischer. Was ihn an Wortbeiträgen wie den dieses Verdi-Sekretärs störe, sei die Haltung, dass alles schlecht sei in Deutschland. Dabei sei die Bundesrepublik „heute das Land der Sehnsüchte“, zumal die Amerikaner meinten, sie befänden sich „auf einer Kampfbahn, einer Arena, in der nur das Recht des Stärkeren zählt“. Wenn man den Menschen hierzulande ständig sage, wie schlecht doch vieles laufe, dann verlören sie den Mut. „Deshalb bitte ich Euch: Hört auf damit!“ Die Zeiten würden unbequemer werden, nicht wegen der Innen-, sondern wegen der Außenpolitik. Dafür brauche man „Politiker, die regieren wollen und sich nicht wegducken“, und diese Erwartung an die deutsche SPD hätten ganz viele in Europa, von Frankreich bis Griechenland. „Nur in der SPD selbst, da gibt es die großen Zweifel, ob man das tun soll.“
Als Gabriel seinen Vortrag beendet hat, ziemlich zum Ende der Diskussion, kommt starker Applaus auf. Die Veranstaltung war ohnehin ein Heimspiel, nirgendwo konzentrieren sich so viele Gabriel-Anhänger wie in seinem Heimat-Unterbezirk Goslar. Die Vorsitzende Petra Emmerich-Kopatsch hatte zu Beginn erklärt: „Wir stehen geschlossen hinter Sigmar!“ Ein älterer Genosse aus Clausthal-Zellerfeld sagt, ihm werde bei der Vorstellung, dass Katarina Barley oder Heiko Maas Außenminister werden sollen, „bange“. Erschrocken sei er über Leute wie Maas oder Andrea Nahles – „da haben wir Besseres verdient“. Zu Gabriel meint er: „Bleib stark, bleib stur, wir brauchen Dich in der Bundesregierung.“
Auch Hubertus Heil kritisiert die Bundesspitze
Der Minister bekennt, er freue sich über solche Wortmeldungen, doch sie würden ihm „das Herz schwer machen“. Ein anderer Genosse, Mitte 50, rüffelt die Parteiführung auch: „Die einfachen Leute verstehen es nicht, dass einer der beliebtesten Politiker nicht mehr in der Regierung sein soll.“ Ein bekannter Fürsprecher ist an diesem Abend auch nach Goslar gekommen, der Braunschweiger SPD-Bezirksvorsitzende Hubertus Heil aus Peine. Auch er spart nicht mit heftiger Kritik an der SPD-Führung. Im Bundesvorstand säßen Leute, „die sich gegenseitig belauern“, deshalb seien in den vergangenen Monaten „dramatische Fehler passiert“, die jüngste Zeit habe er „als Horror erlebt“, es sei „viel Mist gebaut und Vertrauen zerdeppert“ worden. Dann fügt Heil noch einige bemerkenswerte Sätze hinzu, zumal er selbst, der Wirtschaftspolitiker, als möglicher neuer Bundesminister aus Niedersachsen (anstelle von Gabriel) gehandelt wird: „Auch ich wünsche mir, dass Sigmar weiter eine Rolle in der Bundespolitik spielt, aber es liegt nicht in unserer Hand.“ Die SPD wisse, was sie ihm als Außenminister zu verdanken hat. Wenn es nach ihm gehe, bleibe Gabriel, was er ist. „Wir beide lassen uns nicht gegeneinander ausspielen“, betont Heil.
Aber ist das realistisch? In Goslar, seinem Heimatverband, stehen die Sozialdemokraten zu ihrem Bundesaußenminister, der hier vor fast 30 Jahren seine Karriere als Landtagsabgeordneter gestartet hat. Doch in weiten Teilen der SPD, auch in Niedersachsen, gibt es mittlerweile erbitterte Gabriel-Gegner. So klingt die leidenschaftliche Rede des Bundesaußenministers ein wenig so, als habe er vor seinen treuesten Anhängern ein politisches Vermächtnis hinterlassen wollen. Womöglich ist für ihn bald die Zeit, in der ihm große Bühnen und hohe Aufmerksamkeit gewiss sind, vorbei. (kw)