Wie sich die Kommunen in Niedersachsen gegen Überflutungen wappnen
Die Erinnerung an die Dramatik der Ahr-Flut vom Juli 2021 mag im Gedächtnis der meisten Zeitgenossen allmählich verblassen. Doch im großen Konferenzraum der Akademie des Sports in Hannover war die Katastrophe, die 134 Menschen das Leben gekostet hat und über deren Miss-Management eine spätere Bundesministerin ihren Hut nehmen musste, gestern noch sehr präsent. Beim Gewässerforum des Niedersächsischen Landesbetriebs für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN) wurde immer wieder Bezug genommen auf die Tragödie im Südwesten der Republik.
Margret Johst vom Landesamt für Umwelt in Rheinland-Pfalz schilderte eindrucksvoll, wie es so weit kommen konnte. Sie appellierte an die rund 170 Teilnehmer aus Verbänden und Kommunen, in der Bevölkerung für ein besseres Verständnis für mögliche Gefahren zu sorgen. Die Vorhersagen seien zwar mit Unsicherheiten behaftet gewesen, aber was bei den betroffenen Menschen offenbar nicht angekommen sei, war die Dimension der Lebensgefahr, in der sie sich befunden haben, sowie die notwendigen Informationen zur Evakuierung. Nicht zuletzt die Medien hätten deutlicher kommunizieren müssen, wie ernst die Bedrohung war, meinte die Hydrologin Johst.
Ziel der Veranstaltung des NLWKN ist es nun, eine Wiederholung derselben Fehler künftig möglichst zu vermeiden. Umweltminister Christian Meyer (Grüne) tadelte deshalb das kurze Gedächtnis der Menschen. Kurz nach einer Flut seien alle für die Gefahren sensibilisiert – und schon wenig später möchte doch wieder eine Kommune ein Industriegebiet oder gar eine Neubausiedlung in einer Überschwemmungsregion genehmigen, sagte er. Für diejenigen, die wenig von teuren Vorsorgemaßnahmen halten, hält der Umweltminister eine Zahl mit vielen Nullen bereit: 1,4 Milliarden Euro – das ist die Summe, die Niedersachsen als Solidaranteil für die Bewältigung der Ahr-Flut zahlt. Auf 30 Milliarden werde der gesamte Sachschaden in der betroffenen Region geschätzt. Wenn Niedersachsen auf 30 Jahre gestreckt seinen Beitrag „abstottern“ würde, bedeute das jedes Jahr 740 Millionen Euro. Da sei es doch günstiger, jetzt schon in Vorsorgemaßnahmen zu investieren, will der Minister damit sagen.
Um sich die Gefahrenpotenziale durch Extremwetter zu vergegenwärtigen, muss man derweil gar nicht bis in die Eifel schauen. Nur ein paar Jahre vor der Flutkatastrophe im Ahrtal ist Niedersachsen nur um Haaresbreite einem ähnlichen Schicksal entgangen. 2017 sorgte sehr starker Regenfall im Harz und im Harzvorland für überschwemmte Straßen und vollgelaufene Keller. „Es hätte 2017 nur ein wenig mehr regnen müssen, und die Atmosphäre gäbe das durchaus her, und wir hätten hier eine Situation wie in Rheinland-Pfalz gehabt“, erläutert Markus Anhalt vom NLWKN. Was Niedersachsen da erlebt hat, sei ein Jahrtausendhochwasser gewesen – von dem man schon jetzt ausgeht, dass es künftig nicht mehr nur alle tausend Jahre auftreten wird.
Zwar habe man in Niedersachsen weitgehend flaches Land, erklärte NLWKN-Direktorin Anne Rickmeyer im Pressegespräch. Doch gerade im Harz sowie an den großen Flüssen Elbe und Weser gebe es eine besondere Gefahrenlage. Für das NLWKN hat Anhalt deshalb seit 2009 das Hochwasserwarnsystem Niedersachsens aufgebaut, das nun demnächst auf die Bundeswasserstraße Ober- und Mittelweser ausgeweitet wird.
Doch das System hat auch seine Grenzen. Kleine Flüsse und lokal begrenzte Starkregenereignisse seien kaum geeignet, ein Hochwasser vorherzusagen. „Da bleibt dann ganz wenig Zeit, darauf zu reagieren“, erläutert Anhalt. Diesem Problem sah sich auch die Stadt Goslar ausgesetzt, die auch zu den Leidtragenden der Überschwemmungen von 2017 gehört hat. In ihrer 1100-jährigen Geschichte habe die Stadt ein derartiges Ereignis noch nicht erlebt, erklärte Dirk Sielaff, zuständiger Fachbereichsleiter in Goslar, beim NLWKN-Gewässerforum. Die Topografie der Region sei ungünstig für die Stadt am Fuße des Harzes. Ein kleinräumiges Einzugsgebiet mit einer hohen Fließgeschwindigkeit sorgt dort für das, was Markus Anhalt bereits beschrieben hatte: Wenn das Wasser kommt, kommt es schnell, sehr schnell.
Lesen Sie auch:
Wie sich Niedersachsens Städteplaner gegen extremen Niederschlag schützen
Vom Oberlauf der Gose und des Wintertalbachs brauche das Wasser nur eine Stunde, bis es in der Altstadt der Kaiserstadt angekommen ist, erklärte Sielaff. Eigentlich zu wenig Zeit, um zu reagieren. Deshalb hat sich die Kommune in Folge der Flut von 2017 darangemacht, mit fünf verschiedenen Projekten vorzubeugen. Neben der Ertüchtigung der Abzucht, dem kleinen Bach, der durch Goslar fließt, und einem Ausbau möglicher Auffangbecken und Abläufe hat sich die Stadt im Verbund mit der Universität Clausthal und den Harzwasserwerken an die Entwicklung eines besseren Frühwarnsystems gemacht. Diese reicht über die Informationen des NLWKN-Warnsystems hinaus und soll die Fähigkeiten Künstlicher Intelligenz (KI) nutzen.
Basis des Goslarschen Prognosemodells waren zunächst sechs Pegel und vier Wetterstationen, deren Daten per Mobilfunknetz zusammengetragen und von der KI weiterverarbeitet werden. Aus einer Kombination von Wetterdaten und Pegelständen werden Prognosen für ein, zwei, drei und vier Stunden in der Zukunft berechnet und die Gefährdungslage in einem Ampelsystem ausgegeben. Die Vier-Stunden-Prognose habe eine Trefferquote von 96 Prozent, sagte Sielaff – ein enormer Schritt nach vorn für eine Stadt, die zuvor nur eine Stunde Zeit hatte, um sich zu wappnen.
Die Informationen werden dann dem Fachdienst Umwelt- und Gewässerschutz der Stadt Goslar, dem Bevölkerungsschutz und dem Stadtbrandmeister zur Verfügung gestellt. Außerdem nutzt die Stadt die „Divera“-Alarm-App, eine Art digitaler Version des klassischen Feuerwehr-Piepers, die den ausgewählten Nutzern auch die Möglichkeit gibt, sich im Krisenfall direkt über eine Chat-Funktion auszutauschen. Die Entwicklungen in Goslar werden nach eigenen Angaben im Ahrtal mit Interesse beobachtet. Und auch das nahegelegene Bad Harzburg sei daran interessiert – zumindest an der Datenerfassung, auf die Künstliche Intelligenz wolle man verzichten.
Vermutlich dürfte auch Gerrit Tegtbauer die digitale Pionierarbeit in Goslar mit Gewinn zur Kenntnis genommen haben. Tegtbauer ist im Landkreis Osnabrück für den Hochwasserschutz zuständig und berichtete beim Gewässerforum von dem eigenen Schicksalstag, als in seiner Heimat 2010 das Wasser über die Ufer trat. Sein Landkreis habe die Besonderheit, dass mit der Hase zwar ein großer Fluss vorhanden ist, der auch vom Hochwassermessnetz des Landes erfasst wird – aber darüber hinaus gebe es auch viele kleine Flüsse und Bäche, die, wenn das Hochwasser kommt, rasch große Fläche bedecken.
So war es auch 2010, als 140 Millimeter Regenwasser in anderthalb Tagen vom Himmel gefallen sind und Wohnhäuser, Bahnstrecken und agrarische Produktions- und Lagerstätten überflutet haben. Woran es damals ganz entscheidend gemangelt habe, sei gute Kommunikation gewesen, erläuterte Tegtbauer nun. Es habe zwar eine Meldekette gegeben – doch die endete am Ende im Nichts. In Folge dieser Erfahrungen hat der Landkreis nun in mühsamer Kleinarbeit einen Hochwassermeldeplan ausgearbeitet, der die Bevölkerung zunächst per Mail, Internet und Medien über Gefahrenlagen informierte. 2014 hat man den Newsletter zugunsten der „Katwarn“-App wieder abgeschafft. Die neuste Variante des Osnabrücker Meldeplans passt nun auf eine Din A4-Seite, wie Tegtbauer vorführte.
Die Information der Bevölkerung ist nun das eine. Aber die Kommunen müssen auch ganz praktisch vorsorgen, wenn sie sich vor Überschwemmungen schützen wollen. Einen neuen Weg ist dabei die Stadt Braunschweig gegangen. Nachdem die Stadt 2013 noch glimpflich davongekommen war, als Oker, Schunter und Wabe über die Ufer getreten sind, habe man 13 Risikogebiete in der Stadt identifiziert, erläuterte Peter Geisenhainer-Anhalt beim Gewässerforum. Man habe zudem festgestellt, dass die Oker wohl nicht mehr, wie ursprünglich angenommen, dezent um die Altstadt drum herum fließen würde – sondern mitten durch „die gute Stube“ hindurch, wie der Leiter der Unteren Wasserbehörde das Rathaus und den Braunschweiger Löwen nannte. Weil man in der weiteren Beratschlagung aber feststellte, dass ein stationärer Hochwasserschutz inmitten der Großstadt in der Umsetzung äußerst schwierig, unbeliebt und zeitintensiv wäre, entschied man sich in Braunschweig für einen mobilen Hochwasserschutz.
Eine Strecke von 450 Metern kann in der Löwenstadt nun mithilfe mobiler Deichanlagen, die aus 18 jeweils 30 Meter langen Elementen besteht, abgesichert werden. Dabei kann die aus mit Wasser befüllten Schläuchen bestehende Wallanlage wahlweise auf 70 oder bis zu 120 Zentimeter hoch angelegt werden. Gelagert wird der mobile Deich in zwei Containern und soll innerhalb von etwa vier Stunden aufgebaut sein. Der Hochwasseralarmplan sieht derweil einen Vorlauf von acht Stunden vor – es bliebe also Zeit genug. Als man die Anlage erstmals ausprobiert hat, stellte man allerdings fest, dass deutlich mehr Personal benötigt wird, als zunächst angenommen worden war. Außerdem habe man für den Abbau viel länger gebraucht als kalkuliert, räumte Geisenhainer-Anhalt ein – weil die Materialien am Ende nass und dadurch schwer seien. Doch wenn das Hochwasser erst einmal überstanden ist, sollte man die nötige Zeit für den Abbau mit Sicherheit erübrigen können.
Dieser Artikel erschien am 21.04.2023 in der Ausgabe #073.
Karrieren, Krisen & Kontroversen
Meilensteine der niedersächsischen Landespolitik
Jetzt vorbestellen