Wie niedersächsische Soldaten bald zur Speerspitze der Nato werden sollen
Von Vivien-Marie Bettex
Auf die niedersächsischen Soldaten kommt eine neue große Aufgabe zu: Sie sollen bis 2020 als Teil der Schnellen Eingreiftruppe der Nato eingesetzt werden – und damit die Fähigkeiten in der Bündnis- und Landesverteidigung stärken. Unsere Autorin, freie Journalisten und Wehrexpertin, beschreibt in zwei Teilen die neuen Herausforderungen und verweist auf die Defizite in der Ausrüstung. Heute der erste Teil.
Auslandseinsätze in Afghanistan, dem Kosovo oder Mali haben viele niedersächsische Soldaten in den vergangenen Jahren vor ungeahnte Herausforderungen gestellt. Doch dieser Auftrag im Zuge einer verbesserten Landes- und Bündnisverteidigung fordert ihnen ein ganz neues Maß an Durchhaltefähigkeit ab. Bereits Anfang des Jahres hat für Soldaten der aus Oldenburg geführten 1. Panzerdivision die erste Phase einer insgesamt dreijährigen Bereitschaft für die sogenannte Nato Response Force – die schnelle Eingreiftruppe der Allianz – begonnen. Für volle drei Jahre steht die 1. Panzerdivision in der Pflicht, rund 5000 Soldaten samt entsprechendem Gerät für den Abmarsch im Krisenfall ständig bereit zu halten.
Hintergrund ist ein Beschluss, den die Regierungschefs der Nato-Staaten auf ihrem Gipfel 2014 in Wales gefasst hatten. Mit Blick auf das aggressive Vorgehen Russlands in der Ukraine und in Sorge um die Sicherheit insbesondere der baltischen Staaten entschieden die Nato-Staaten, die Schnelle Eingreiftruppe zu stärken und um eine sogenannte Speerspitze zu ergänzen – und die Fähigkeit zur Bündnisverteidigung damit deutlich zu erhöhen. Durch die schnelle Einsatzbereitschaft der „Very High Readiness Joint Task Force“ (VJTF) soll die territoriale Sicherheit aller Bündnispartner ständig gewährleistet werden. Anspruch ist, innerhalb von nur 48 bis 72 Stunden mit ersten Einsatzkräften in Krisenregionen innerhalb des gesamten Nato-Gebietes vor Ort zu sein.
Für das kommende Jahr 2019 hat die 1. Panzerdivision die Führung der VJTF übernommen – genauer gesagt, die der Division untergeordnete Panzerlehrbrigade 9 aus Munster mit ihrem Kommandeur Brigadegeneral Ullrich Spannuth an der Spitze. Die schnellste Truppe der Nato wird sich dann überwiegend aus Soldaten der aus Oldenburg geführten 1. Panzerdivision zusammensetzen. Hinzu kommen weitere Kräfte des Sanitätsdienstes sowie Logistiker der Streitkräftebasis und Experten des Kommandos Cyber- und Informationsraum. Insgesamt werden rund 5000 deutsche Soldaten und 3000 Soldaten aus acht weiteren Nationen im kommenden Jahr für die VJTF unter deutschem Kommando stehen und sich rund um die Uhr bereithalten.
Seit Januar läuft die „Stand-Up-Phase“
Den Kern des Gefechtsverbandes bildet das Panzerlehrbataillon 93 aus Munster. Für einen möglichen Einsatz bereithalten müssen sich die Soldaten aus Niedersachsen allerdings schon seit Beginn dieses Jahres. Hintergrund: Die Truppen für die VJTF werden nach einem rollierenden System gestellt. Dafür stehen die Verbände der teilnehmenden Nato-Staaten über einen Gesamtzeitraum von drei Jahren mit verschiedenen Bereitschaftszeiten auf Abruf.
Im vergangenen Januar hat für die niedersächsischen Soldaten die sogenannte „Stand-Up-Phase“ begonnen. Bis Ende des Jahres besteht für sie in dieser vorbereitenden Phase eine Abmarschbereitschaft („notice to move“) von 45 Tagen. Mit Beginn des kommenden Jahres wird für sie dann die besonders fordernde „Stand-By-Phase“ starten. Die Abmarschbereitschaft beläuft sich dann nur noch auf zwei bis sieben Tage.
Die Soldaten aus Niedersachsen würden dann als erste Kräfte der Nato in Krisengebieten eintreffen. Ihr Auftrag: Zeit gewinnen, bis Folgekräfte die Region erreichen. Im Jahr 2020 wird schließlich die „Stand-Down“-Phase mit einer Abmarschbereitschaft von 30 Tagen folgen. Diesem Bereitschaftsprinzip entsprechend setzt sich die VJTF in diesem Jahr wie folgt zusammen: Neben dem deutschen Verband in der „Stand-Up-Phase“ befindet sich ein von Italien geführter Verband in der „Stand-By“- und ein britisch geführter Verband in der „Stand-Down-Phase“.
Ein Problem ist die Ausrüstung
Seit Monaten schon beteiligen sich die Soldaten aus Munster an vorbereitenden Manövern. Bevor sie die Nato-Verpflichtungen übernehmen können, überprüfen militärische Vertreter der Allianz die Leistungen der deutschen Soldaten. Im Fokus steht dabei unter anderem die erfolgreiche Eingliederung in ein multinationales Umfeld – also das reibungslose Zusammenwirken mit Truppenteilen aus anderen Nato-Nationen. Erst nachdem die deutschen Verbände alle notwendigen Zertifizierungen der Nato erhalten und den Status „combat ready“ (einsatzbereit) erlangt haben, werden sie die Führungsverantwortung für die Speerspitze der Allianz wahrnehmen dürfen.
Besondere Herausforderung für die 1. Panzerdivision ist, Soldaten und Material – darunter die Hauptwaffensysteme der 1. Panzerdivision Kampfpanzer „Leopard 2“ und Schützenpanzer „Marder“ – während der dreijährigen Bereitschaftszeit zuverlässig bereithalten zu können. Durch Medienberichte war im Februar bekannt geworden, dass Anfang des Jahres nur Bruchteile der notwendigen Ausrüstung bereitstanden.