Darum geht es: Heute vor 30 Jahren begann das Geiseldrama von Gladbeck, das der Gesellschaft der Bundesrepublik in den späten achtziger Jahren einen Spiegel vorgehalten hat. Es gibt viele Lehren aus Gladbeck, meint Klaus Wallbaum in seinem Kommentar.

Man muss es als Zeichen der Größe bewerten, wenn Udo Röbel, einst stellvertretender Chefredakteur des „Kölner Express“ und heute Autor für die Madsack-Mediengruppe in Hannover, in diesen Tagen ganz offen über seine Rolle vor 30 Jahren berichtet. Röbel war einer von den Journalisten, die damals Grenzen überschritten hatten, sich in das Auto mit den Geiselnehmern setzten, die Täter durch die Gegend lotsten und damit vom Beobachter zum Akteur wurden – bei einem Ereignis, das tragisch mit drei Todesopfern endete und die Bundesrepublik, zwei Jahre vor der Wiedervereinigung, aufgerüttelt hatte. Zwei schwerkriminelle Bankräuber, die zu Geiselnehmern wurden, fuhren mit ihren Geiseln von einem Pressetross begleitet drei Tage quer durch Nord- und Westdeutschland, ohne aufgehalten worden zu sein.

Gladbeck – das steht für schwerwiegende Fehler und Versäumnisse. Es lohnt sich, daran noch einmal zu erinnern, auch deshalb, weil man abgleichen sollte. Kann so etwas wie in Gladbeck heute noch einmal geschehen?

  •     Die Polizei: Die verantwortlichen Einsatzleiter zögerten und warteten ab, hatten weder eine gute Überwachung der Täter organisiert noch sichergestellt, dass sie immer mit aktuellen Informationen versorgt waren. So konnte es geschehen, dass die beiden Geiselnehmer unbehelligt durch einen Bremer Stadtteil schlendern und einkaufen gehen. Viele Gelegenheiten zum Zugriff wurden von der Polizei verpasst, oft auch deshalb, weil sie gar nicht in ausreichender Einsatzstärke vor Ort war. Das lag womöglich aber auch daran, dass sie die Brutalität der Täter unterschätzten und in der irrigen Annahme waren, sie würden irgendwann müde werden und aufgeben. Dabei war doch die Bundesrepublik damals längst keine Insel der Glückseligen mehr gewesen, es hatte 1972 das Attentat in München gegeben und fünf Jahre später die Terrorwelle der RAF. Aber im Fall Gladbeck wurde das Geschehen von der Polizei drei Tage lang unterschätzt, bis es schließlich die Polizeiführer selbst waren, die zum Ende hin mit einem überstürzten Einsatz auf der Autobahn die Nerven verloren und offenbar in Panik gerieten.
  •     Die Politik: Die Täter bewegten sich durch mehrere Bundesländer, mit jedem neuen Fluchtweg kamen sie in den Zuständigkeitsbereich eines anderen Innenministers oder -senators. Die Polizeistrategen in den Landesregierungen waren offensichtlich nicht eingestellt auf die bei derartigen Situationen zwingende Notwendigkeit, schnell und eindeutig die Kompetenzfrage zu klären. Wie für die Polizei gilt auch für die Politik, dass man es sich gemütlich gemacht hatte im bewährten System und eskalierende kriminelle Aktionen wie diese Geiselnahme außerhalb des Vorstellungsvermögens gewesen waren.
  •     Die Medien: Viele Gelegenheiten, die Täter zu überwältigen, mussten ungenutzt bleiben, weil Journalisten, Fotografen und Kameraleute den Wagen mit ihnen und den Geiseln umringten, die Geiselnehmer interviewten und in der Gier auf die beste Story und das beste Foto den Sicherheitskräften buchstäblich im Wege standen. Die Verbrecher hatten so die Chance, die Journalistenschar als Schutzpanzer für sich selbst zu gebrauchen. Gleich mehrere schwere Fehler kommen hier zusammen. Erstens hat es keine funktionierende Kommunikation zwischen Polizei und Medien gegeben, oder drastisch ausgedrückt: Die Journalisten haben sich nicht darum geschert, welche Interessen die Polizei hat – umgekehrt hat die Polizei ihnen das auch nicht vermittelt. Zweitens wurde ein Bild der Medien sichtbar, das alles dem eigenen Streben nach der interessantesten Geschichte unterordnet. Dass hier Geiseln bedroht waren, den zuallererst geholfen werden musste – und dass diese Hilfe den anwesenden Sicherheitskräften überlassen werden musste, wurde von vielen Reportern ausgeblendet. Drittens litten nicht wenige Reporter, die damals im Einsatz waren, unter massiver Selbstüberschätzung. Sie wollten sich anmaßen, als Vermittler zwischen Entführern und Polizei aufzutreten, also die Beobachterrolle zu verlassen und Einfluss auf das Geschehen zu nehmen, über das sie gleichzeitig berichten wollten. Tatsächlich ist es in der Praxis für Journalisten oft nicht einfach, sich ganz auf den passiven Beobachterstatus zu beschränken – jeder Kommentar zum aktuellen Geschehen wirkt wie ein Ratschlag, jeder Ratschlag kann schon als Einmischung verstanden werden. In diesem Fall aber ging es um ein Verbrechen, das sich gerade ereignete – und bei dem es selbstverständlich hätte sein müssen, der Polizei das Feld zu überlassen. Stattdessen bekommt man heute beim Rückblick auf das Geiseldrama manchmal das Gefühl, als hätten sich einige Medienleute damals an der Katastrophe regelrecht berauscht.

Ob all das heute nochmal so passieren könnte? Die Polizei hat, bedingt wohl auch durch die Erfahrungen mit islamistischen Attentaten der vergangenen Jahre, erheblich dazugelernt. Man ist für solche Fälle besser viel gerüstet als 1988. Die Politik hat, im Fall von Nordrhein-Westfalen erst nach langer Wartezeit, die Versäumnisse eingestanden und sich entschuldigt. Die Medien diskutieren heute noch lebhaft über Gladbeck, dieses Ereignis kann ein Wendepunkt zum Besseren im Journalismus gewesen sein. Hoffentlich.

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