Zukunftstag: Wie die Fraktionen um Politiker-Nachwuchs werben
Im Leibnizsaal des niedersächsischen Landtags geht es an diesem Donnerstagmorgen zu wie in einem Bienenstock. Ein Abgeordneter nach dem anderen kommt herein, liefert bis zu drei Kinder dort ab und zieht sich dann wieder zurück. Gut 125 junge Menschen haben sich bei der SPD-Landtagsfraktion versammelt, um zu schauen, ob das vielleicht auch etwas für ihre berufliche Zukunft sein könnte: Politik. „Am Ende sollen alle von Euch rausgehen und sagen: Ich will Abgeordneter werden“, gibt Fraktionschef Grant Hendrik Tonne gleich zu Beginn die Devise aus. Um kennenzulernen, wie der Beruf des Politikers so aussehen kann, haben sich alle Fraktionen ganz unterschiedliche Programme überlegt.
Bei der SPD-Fraktion können die Schüler zunächst den Abgeordneten Tonne, Wiard Siebels, Immacolata Glosemeyer, Philipp Raulfs, Marten Gäde und danach auch noch dem Ministerpräsidenten persönlich alle Fragen stellen, die sie schon immer einmal loswerden wollten. Anschließend teilen sich die Schüler in fünf Gruppen auf, bilden eigene „Fraktionen“ und erarbeiten eigene Entschließungsanträge, die am Nachmittag im Plenum beraten werden sollen. Wie wegweisend so ein Zukunftstag im Landtag sein kann, verrät Raulfs, der selbst früher einmal an einem solchen Programm teilgenommen hat – und nun Abgeordneter ist. Er schlussfolgert: „Wenn Ihr einmal Bundeskanzler oder Ministerpräsident werden wollt, seid Ihr hier genau richtig.“
Doch zunächst die Fragen: Haben Abgeordnete eigentlich einen normalen Alltag? „Also, wir sind ganz normale Menschen“, sagt Gäde. Doch dass der Alltag auch ganz normal sein soll, da gibt es Widerspruch: „Es kommt schon vor, dass man an der Wursttheke erkannt und angesprochen wird“, setzt Glosemeyer an. „Dann dauert der Einkauf deutlich länger. Aber es ist auch gut, erkannt und angesprochen zu werden.“ Nächste Frage: Wie oft müssen Sie in der Woche in den Landtag fahren? „Das ist sehr unterschiedlich“, sind sich die Abgeordneten einig. Gäde muss jede Woche in einen Ausschuss und hat sich deshalb eine Zweitwohnung in Hannover genommen, weil sein eigentlicher Wohnort Wilhelmshaven so weit weg ist.
Einen weiten Weg hat auch Siebels, der aus Aurich anreisen muss und deshalb in der Regel schon sonntags losfährt, um dann rechtzeitig zum „SPD-Montag“ da zu sein. Fraktionschef Tonne sagt, er sei mindestens vier Tage in der Woche in Hannover und habe dann häufig nur noch einen halben Tag für den Wahlkreis. Da drängt sich die nächste Frage auf: Wie lässt sich der Beruf mit einer Familie vereinbaren? „Das ist in der Tat schwierig“, sagt Tonne. „Das geht natürlich nur, weil meine Frau zu Hause sagt, dass das klar geht. Dass wir den Haushalt ausgeglichen führen, das geht nicht.“ Zwischendurch noch eine allgemeinere Frage: Dürfen hier mit der Parteiprominenz auch Fotos gemacht werden? „Wir wären die ersten Politiker, die sich Fotos entziehen“, sagt Tonne und muss lachen.
Tonne selbst zählt in dieser Runde übrigens zu den sehr prominenten Politikern, den die Schüler insbesondere deshalb so gut kennen, weil er sich als Kultusminister in der Corona-Zeit häufig per Brief direkt an sie gewandt hatte. Ein anderer Promi kommt etwas später und ist von der schieren Menge junger Menschen bass erstaunt. Ministerpräsident Stephan Weil wirbt vor der Fragerunde noch allgemein für sein Metier: „Immer, wenn sich jemand für die Interessen anderer einsetzt, dann ist das Politik. Und nach meiner Erfahrung kann man damit sehr glücklich werden.“
Als die Schüler dann Fragen stellen, wird es deutlich konkreter: „Haben Sie Altgriechisch gelernt?“ („Es gab bessere Investitionen“), „Wie stehen Sie zur Cannabis-Legalisierung?“ („Nicht so“), „War es hilfreich, dass Sie Jura studiert haben?“ („Durchaus“), „Müssen die Rettungskräfte besser geschützt werden?“ („Die Gesetzeslage reicht aus, es braucht mehr soziale Kontrolle“), „Wie stehen Sie zu Klimaklebern?“ („Finde ich richtig falsch“).
Als die Frage nach mehr Unterstützung gegen die Steigerung der Lebenshaltungskosten aufkommt, wird es Zeit, den Ort zu wechseln. Nebenan im Plenarsaal des Landtags stehen nämlich gerade Carina Hermann und Jonas Pohlmann von der CDU-Fraktion einer deutlich kleineren Gruppe junger Menschen Rede und Antwort. Die Parlamentarische Geschäftsführerin erklärt gerade, was der Unterschied zwischen einer Debatte und einem Streit ist. „Wir debattieren. Wir streiten auch mal. Aber wenn wir am Ende nach draußen gehen, vertreten wir eine Meinung.“
Die Geschäftsordnung im Landtag bringt sie den Schülern anhand der Regeln im Klassenzimmer nahe – auch da dürfe man schließlich nicht einfach dazwischenrufen, wenn einem etwas nicht gefällt. Wobei der Zwischenruf im Parlament manchmal eben doch dazu gehöre. „Wenn da jemand steht und Schwachsinn erzählt – dafür würde ich jetzt einen Ordnungsruf kassieren – wenn da jemand etwas sachlich nicht richtig erzählt, dann kommt es schon zu Zwischenrufen.“ Kurz darauf öffnet sich die Tür zur Besuchertribüne und Stephan Bothe von der AfD tritt mit seiner Besuchergruppe herein. Man müsse im Landtag einfach sehr auf seine Worte achten, meint Carina Hermann – und ergänzt, dass sie das auch jetzt mal tun müsse, weil ja nun ein Vertreter der Presse mit im Plenarsaal sitzt.
Die Sitze im Plenarsaal kommen übrigens nicht nur bei der Presse, sondern auch bei den Jugendlichen sehr gut an. So berichten sie es zumindest beim nächsten Tagesordnungspunkt, dem Interview mit CDU-Fraktionschef Sebastian Lechner. Auch er lässt keine Gelegenheit verstreichen, um für seinen Beruf zu werben und reagiert auf das Lob für die Stühle, indem er sagt: „Dann gewöhnt Euch schon mal dran und macht euch auf den Weg.“ Ein anderer Einrichtungsgegenstand leitet sogleich über zur ersten Frage: „Stimmt das mit den Schulden, wie es da auf der Uhr steht?“ („Ja, aber immerhin bewegt sie sich gerade nicht“), „Wie halten wir die Industrie in Deutschland?“ („Weils Plan ist jedenfalls viel zu kompliziert“), „Können Sie sich vorstellen, Bundeskanzler zu werden?“ („Mein Platz ist im Land“), „Was kann man gegen Unterrichtsausfall tun?“ („Quereinstieg und Rückkehr erleichtern“), „Warum gelingt es den Politikern nicht, die jungen Leute abzuholen?“ („Verratet Ihr es mir!“).
Zukunftstag heißt bei den Grünen noch Girls‘ Day
Beim Stichwort „Klimakleber“ wird es dann Zeit, zur Grünen-Fraktion zu wechseln. Dort wird zur Mittagspause angeboten, mit Kultusministerin Julia Hamburg eine vegane Pizza zu essen. Neben ihr gesellen sich aber auch fast alle anderen Abgeordneten der Grünen hinzu, um über ihre Arbeit zu berichten. Bemerkenswert ist zudem, dass unter den rund zwei Dutzend Teilnehmern hier ausschließlich Mädchen sind. Bei der Frauenförderung sind die Grünen konservativ: Der Zukunftstag heißt hier noch Girls‘ Day. „Wir haben das vielfach diskutiert, aber solange die Politik noch immer mehrheitlich männlich dominiert ist, belassen wir es so“, heißt es. Im Kultusministerium ist die Lage übrigens andersherum, dort sucht man händeringend männliche Kollegen.
Aber wie wird man nun Politikerin? Die wichtigste Erkenntnis von Julia Hamburg vorweg: „Man kann es nicht planen.“ Aber weiter führt sie aus: „Indem man etwas verändern will, in eine Partei geht, dort Unterstützung erfährt, aufgestellt wird und die Partei dann auch noch die Bürger überzeugen kann.“ Außerdem müsse man gar nicht zwingend Abgeordnete werden, wenn man etwas verändern will, erklärt sie. Man könne Mitarbeiter eines Politikers werden, in eine Nichtregierungsorganisation gehen, in Interessenverbände oder die Verwaltung, die aus Sicht der Kultusministerin immer unterschätzt werde.
Und dann gibt sie da noch eine Anekdote zum Besten, die man vielleicht nicht unbedingt erwartet hat. Bei einem Gespräch mit Mitgliedern von „Fridays for Future“ habe sie ihnen geraten, doch einen Beruf zu ergreifen, bei dem sie ganz praktisch etwas verändern können – etwa das Handwerk! Die persönliche Berufsberatung der Kultusministerin endet also mit dem Hinweis, man müsse gar nicht Politiker werden, sondern etwas Praktisches machen. Und Lehrer, die sucht sie natürlich auch noch.
Dieser Artikel erschien am 28.04.2023 in der Ausgabe #078.
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