Sie stehen auf den letzten Quadratmetern Deutschlands. Gleich hinter dem Unterstand, unter dem David Thomson und Christian Müller (Name geändert) das Polizeiauto abgestellt haben, beginnen die Niederlande. Vor ihnen rauscht der Verkehr vorbei, von der deutschen A30 auf die niederländische A1. Es sind nur Sekunden, in denen Thomson und Müller die einzelnen Fahrzeuge und ihre Fahrer betrachten können, doch meist reicht ihnen das. Ein weißer Mercedes-Sportwagen rast vorbei, Hamburger Kennzeichen, am Steuer ein junger Mann mit Pilotenbrille. Müller und Thomson tauschen einen Blick, Worte sind nicht nötig. Dann tritt Thomson aufs Gas und jagt dem Sportwagen nach.

Eigentlich dürfen Polizisten niemanden weiter als 30 Kilometer über die Grenze hinaus verfolgen, es sei denn, es gibt einen konkreten Tatverdacht. Doch hier, am Grenzübergang, sehen Thomson und Müller die meisten Menschen zum ersten Mal. Sie können nicht wissen, ob der junge Mann in dem Sportwagen Autos verschiebt, mit Drogen dealt oder einfach Urlaub in den Niederlanden machen will. Um den grenzüberschreitend arbeitenden Kriminellen dieses rechtliche Schlupfloch zu nehmen, wurde 2008 auf Initiative der Polizeidirektion Osnabrück das „Grenzüberschreitende Polizeiteam“ (GPT) gegründet, eine Konstellation, die einmalig ist in Deutschland.
Auch in anderen Grenzregionen arbeitet die deutsche Polizei eng mit den Nachbarn jenseits der Grenze zusammen. Doch nur im Drei-Länder-Eck Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Niederlande sitzen deutsche und ausländische Polizisten auch gemeinsam in einem Streifenwagen. „Das ist ein entscheidender Vorteil“, sagt der niedersächsische Polizeikommissar Müller. Denn verfolgt er einen Verdächtigen über die Grenze, so dürfte Müller ihn nicht mehr anhalten oder festnehmen und müsste auf einen niederländischen Kollegen warten. Da aber mit Politie-Brigadier Thomson schon ein Niederländer mit im Auto sitzt, übernimmt dieser einfach Befragung, Durchsuchung oder gar Festnahme, Müller wird zum Amtshelfer. Umgekehrt gilt das ebenfalls.
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Auch jetzt können die beiden den weißen Mercedes erst beim Städtchen De Lutte auf einen Parkplatz dirigieren. Doch der Fall stellt sich schnell als uninteressant heraus. Der Fahrer ist ein 25 Jahre alter Hamburger, der einer Bekannten für ein paar Tage Amsterdam zeigen will. „Ich wette, auf der Rückfahrt sind die zwei ein Paar“, raunt Müller grinsend Thomson zu, als die beiden ins Polizeiauto steigen und zurück Richtung Grenze fahren.
Kurz darauf stoppen die beiden Polizisten einen blauen Kleintransporter, der aus Amsterdam kommt. Ja, er habe schon mal mit der Polizei zu tun gehabt und sei auch schon mal verurteilt worden. Wegen Drogen, gibt der Fahrer unumwunden zu. Heute aber transportiere er nur Rosen. Bereitwillig öffnet er die Heckklappe des Wagens, lässt Thomson in Hohlräume fassen und öffnet einen der Kartons. Darin liegen tatsächlich Rosen. Müller lässt den Mann weiterfahren. Doch später wird er im Vorgangsbearbeitungssystem eine Notiz verfassen, dass der Mann in Amsterdam war. Nur für den Fall, dass er wieder mit Drogen erwischt wird.
Drogen machen den größten Teil der Delikte aus, die die Polizisten an dieser Grenze aufdecken. „Egal, aus welchem Grund man eine Kontrolle beginnt, am Ende findet man meistens Drogen“, sagt Gerd Reckels. Er ist Polizeihauptkommissar der Bundespolizei und übernimmt die Rolle Koordinators für den Informationsaustausch zwischen den fünf beteiligten Polizeibehörden Koninklijken Marechaussee, Politieenheid Oost-Nederland, Bundespolizeidirektion Hannover, Kreispolizeibehörde Borken (NRW) und Polizeidirektion Osnabrück. Auch Autoschieber, Einbrecher und Dokumentenfälscher treffen die Beamten des Öfteren an.

Ein besonders skurriler Fall ereignete sich vor wenigen Wochen. Die Polizisten hatten einen Griechen aus Bremen gestoppt. „Ein Abgleich mit den Niederländern hat dann aber ergeben, dass der Mann eigentlich von dort stammt und ein gesuchter Intensivtäter ist“, sagt Reckels. „Die griechische Identität, eine türkische Zweitidentität, die Fahrzeugidentifikationsnummer – alles war gefälscht.“ Hin und wieder stoppen die Polizisten an der Grenze auch Flüchtlinge. „Hier geht es aber selten tatsächlich um Asyl, als vielmehr darum, Zeit zu schinden“, sagt Reckels. Abgelehnte Asylbewerber wechseln über die Grenze, um einen neuen Antrag auf Asyl zu stellen. Bis über diesen entschieden wird, können sie in Europa bleiben. „Das Schengen-Abkommen ist sehr träge“, sagt Reckels.
Die grenzüberschreitenden Polizeiteams sind allerdings nicht auf die Autobahn und die großen Ausfallstraßen festgelegt. „Wir können überall im Grenzgebiet kontrollieren, alle Grenzübergänge, alle Straßen, alle Wege“, sagt Thomson. Mal hätten sie auf einem Waldweg einen Radfahrer aufgegriffen, der Drogen im Sattelrohr seines Fahrrads versteckt hatte. „Der wäre uns gar nicht aufgefallen, wenn er sich nicht so seltsam verhalten hätte“, sagt Müller. Erfahrung und ein gutes Bauchgefühl sind die wichtigsten Werkzeuge der insgesamt 20 Polizisten, die beim grenzüberschreitenden Polizeiteam arbeiten.
Schließlich müssen sie in den meisten Situationen in Sekundenschnelle eine Entscheidung fällen: Hinterherfahren und kontrollieren oder nicht? „Es gibt ein paar Merkmale, bei denen wir aufmerksam werden“, sagtMüller. Zum Beispiel bei Autokennzeichen aus Osteuropa oder von weit entfernten Orten in Deutschland. Bei Kontrollen achten sie darauf, ob sich im Gespräch Widersprüche entwickeln. „Wenn jemand sagt, er fährt sieben Tage nach Amsterdam, hat aber gar kein Gepäck dabei, dann passt da was nicht zusammen“, sagt Thomson.
Neue Finanzierung: Projekt läuft auch ohne EU-Gelder weiter
Zehn Jahre nach dem Start hat sich das grenzüberschreitende Polizeiteam etabliert. Die umliegenden Dienststellen nehmen gern die Unterstützung des Teams in Anspruch, etwa bei Fahndungen und Observationen. Ende März läuft die Förderung der EU aus, die das Projekt zu 80 Prozent finanziell unterstützt. Dass es weitergehen soll, ist schon festgeschrieben, künftig zahlen die beteiligten Polizeibehörden die Einheit aus ihrem eigenen Budget.
Am 28. März unterzeichnen dazu die beteiligten Behördenchefs im Rahmen einer Feierstunde im Kulturquadrat in Ahaus ein entsprechendes Papier, das sogenannte „Ahauser Übereinkommen“. „Durch die enge Zusammenarbeit über Ländergrenzen hinweg haben wir einen gemeinsamen Sicherheitsraum beiderseits der Grenze geschaffen. Es ist unser Ziel, auch zukünftig gemeinsam der Garant für die Sicherheit der Einwohner in der Grenzregion zu sein“, sagt Michael Maßmann, Präsident der Polizeidirektion Osnabrück , zur Fortführung der gemeinsamen Zusammenarbeit. Für Reckels ist die Neuauflage ein guter Anlass, um über Verbesserungen nachzudenken. „Wir haben gezeigt, was in puncto grenzüberschreitender Zusammenarbeit möglich ist. Aber da geht noch mehr.“

Ein Manko sei etwa, dass die Teams zwar gemeinsam Streife fahren und kontrollieren dürften, aber nicht gemeinsam ermitteln. „Das ist rechtlich nicht möglich“, sagt Reckels. Dabei sei die Zusammenarbeit von deutschen und niederländischen Polizisten in vielen Fällen essenziell. „Denn oft ergibt sich erst ein vollständiges Bild, wenn auch Erkenntnisse im Nachbarland gesammelt werden können.“ Er wünsche sich deshalb künftig drei Beamte im Streifenwagen: Zwei Schutzpolizisten und einen Ermittler. „Doch dazu müssen die Gesetze aller beteiligten Länder geändert werden.“
Von Isabel Christian