1. Apr. 2020 · 
Inneres

Wie der Landtag auf sich selbst zurückgeworfen wird

Mit der Corona-Krise ist der niedersächsische Landtag zwangsläufig auf die Ersatzspieler-Tribüne verbannt worden – denn in der aktuellen Situation arbeitet der parlamentarische Betrieb in Hannover auf Sparflamme. Während die Landesregierung per Dekret Schritte verfügt, die tief in das Alltagsleben der Menschen eingreifen, beschränkt sich die Kontrolle im Landtag auf ein Minimum. Die Sondersitzung des Landtags, in der ein Nachtragshaushaltsplan beschlossen wurde, ist von anfänglich drei Tagen auf wenige Stunden gekürzt worden – wegen der Vermeidung höherer Ansteckungsgefahr bei längeren Kontakten zwischen den Abgeordneten.
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Die Ausschussarbeit des Parlaments ist fast zum Erliegen gekommen, eine Ausnahme soll der Sozialausschuss machen, in dem die Regierung wöchentlich einmal über aktuelle Vorkommnisse informiert. Daneben finden kaum noch andere Gremiensitzungen statt. Manche Abgeordnete blicken schon neidisch auf eine Handvoll Journalisten, die derzeit täglich ein exklusives Recht der Mitglieder der Landespressekonferenz (LPK) nutzen: Die LPK organisiert montags bis freitags um 14.30 Uhr eine auch im Fernsehen direkt übertragene Pressekonferenz, in der der Corona-Krisenstab und andere Mitglieder der Landesregierung das aktuelle Geschehen erläutern und auf Nachfragen der LPK Stellung beziehen müssen. In den gegenwärtigen Krisenzeiten ist dies das einzige Gremium, in dem die Regierung Rede und Antwort stehen muss, das also eine eingeschränkte Ersatzaufgabe für das Parlament wahrnimmt.

Ausnahmezustand des Landes dauert schon bald drei Wochen

Mittlerweile bald drei Wochen schon dauert dieser faktische Ausnahmezustand in der Landespolitik nun an, heute beginnt die 13. dieser Sonder-Pressekonferenzen. In den zurückliegenden Wochen wurden dort die Erlasse zur Schließung von Geschäften und zu den Kontaktsperren für die Bevölkerung verkündet, die Einschränkungen des Schulunterrichts, die Sonder-Hilfen für die von der Corona-Krise betroffenen Betriebe und die überarbeiteten Regeln für diese Hilfen. Es wurde über die Haushaltslage des Landes berichtet, über die Kontrollarbeit der Polizei, über die Probleme bei der Ausrüstung der Krankenhäuser und über die Debatte, ob eine Ausgangssperre womöglich sinnvoller wäre als ein Kontaktverbot. Die Häufung von Todesfällen in einem Wolfsburger Altenheim war ein Thema, immer wieder ging es auch um die Schutzausrüstung und die Frage, ob für Ärzte und Pfleger ausreichend Schutzkleidung und -masken vorhanden sind https://www.youtube.com/watch?v=KjvHF_EErfU So sehr die Journalisten immer wieder gefragt und nachgehakt haben, so sehr war doch gleichzeitig die sonst bei parlamentarischer Begleitung übliche Debatte über die Sinnhaftigkeit politischer Entscheidungen weder vorgesehen noch möglich. Wie wenig das Parlament selbst in diesen Krisenzeiten zudem auszurichten vermag, zeigt auch die Tatsache, dass die 1,4 Milliarden Euro im Nachtragshaushaltsplan pauschal dem Finanzminister zugeordnet wurden, also nicht trennscharf in einzelne Titelgruppen unterteilt wurden. Das gibt der Exekutive die Freiheit, das Geld nach eigenen aktuellen Anforderungen gezielt für bestimmte Projekte zu bündeln. Es wird lediglich hinterher über die Verwendung in einem Schreiben an die Landtagsfraktionen unterrichtet.

Birkner fordert öffentliche Diskussion über Sinn der Maßnahmen

Als einer derjenigen, die vehement für eine breitere öffentliche Diskussion über den Sinn oder Unsinn bestimmter Freiheitsbeschränkungen werben, tritt FDP-Fraktionschef Stefan Birkner auf. Er vertritt die Ansicht, man solle über die Frage, wie eine Lockerung von Auflagen aussehen könnte, durchaus mutig diskutieren – auch um den Preis, dass Ängstliche aufgeschreckt werden oder gar falsche Erwartungen geweckt werden könnten. „Eine mündige Gesellschaft muss das aushalten“, sagt Birkner. Von der Landesregierung ist bekannt, dass Ministerpräsident Stephan Weil einen solchen offenen Dialog derzeit eher mit Sorge sieht, da er zur Verwirrung beitragen könnte. In Birkners Position mischt sich zudem Unbehagen über die Angemessenheit der einen oder anderen Auflage, die derzeit in Niedersachsen verhängt wird. Er hegt Zweifel, ob wirklich alles, was geschieht, rechtsstaatlichen Grundsätzen entspricht. So ist in Cuxhaven Auswärtigen verboten worden, den Strand aufzusuchen. In einigen Städten sollen die Eigentümer von Zweitwohnungen daran gehindert worden sein, in ihre Domizile zu kommen. Auf Norderney wurden Urlauber gedrängt, ihre Ferienreise vorzeitig abzubrechen und zurück nach Hause zu fahren. Geschäfte, die noch offen haben, dürfen je zehn Quadratmeter lediglich einen Kunden zulassen. Private Feiern sind untersagt – auch wenn weniger als 50 Leute daran teilnehmen. Auch Freunde dürfen nicht mehr nach Hause eingeladen werden. Beschränkungen gibt es auch bei der Begleitung Sterbender, wobei die Formulierung in der Allgemeinverfügung strenger klingt als in einer Ausführungsrichtlinie des Sozialministeriums. FDP-Chef Birkner sagt: „Wir brauchen über die Einschränkung der Bürgerrechte eine offene, kritische und auf Augenhöhe geführte Debatte. Derzeit hört sich das aber eher nach einem Gespräch zwischen Eltern und ihren unmündigen Kindern an.“
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #064.
Niklas Kleinwächter
AutorNiklas Kleinwächter

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