Wechsel und Enttäuschungen: Die Listen der Parteien bleiben nicht ohne Überraschungen
Bei CDU und SPD rutschen diejenigen, die 2021 noch auf Listenplatz eins standen, etwas abwärts. Bei der SPD wirbelt ein Bundesminister den bisher fein austarierten Proporz der Regionen des Landes gehörig durcheinander – mit durchaus erheblichen Nachwirkungen auch für Hoffnungsträger der Partei. Die Grünen servieren profilierte Realo-Politiker ab und feiern sich selbst für den Erfolg der betont linken Kandidaten. Ist das kurzsichtig? In der AfD wird der bisherige Landesvorsitzende von seinem Nachfolger abgewatscht – und bei der Linkspartei müssen die Landesvorsitzende und der Landesgeschäftsführer empfindliche Niederlagen kassieren. Die FDP schart sich um den Bundestagsfraktionschef und das BSW wählt ganz zurückgezogen und frei von Überraschungen. Das sind die Ergebnisse der Listenaufstellungen für die Bundestagswahl am 23. Februar. Größere Konflikte sind in allen Fällen jedoch zumindest öffentlich nicht ausgetragen worden.
Hier eine Übersicht:
- SPD: Der Bundesvorsitzende Lars Klingbeil stammt aus dem kleinen Parteibezirk Nord-Niedersachsen, der in der sonst üblichen Reihenfolge der Kräfteverhältnisse normalerweise weiter hinten rangiert. Aber Klingbeil ist jetzt Spitzenkandidat der Niedersachsen-SPD, nachdem er 2021 – damals noch als SPD-Generalsekretär – Platz fünf hatte. Das Ergebnis bedeutet eine Rückenstärkung des Landesverbandes für Klingbeil, die er in diesem Jahr noch brauchen kann, wenn es nach der Bundestagswahl um die Neuverteilung der Machtgewichte in der SPD geht. Wird er der kommende Mann in einer Nach-Scholz-Ära der Sozialdemokraten? Dass Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius als Neu-Hannoveraner Position drei der Landesliste erhält, wirkt sich negativ für andere Männer aus dem SPD-Bezirk Hannover aus, so für Generalsekretär Matthias Miersch und für Hannovers SPD-Stadtchef Adis Ahmetovic. Miersch zeigt Größe und rückt freiwillig nach hinten – ein Beleg dafür, dass bei ihm die Eitelkeit nicht ausschlaggebend ist. Einen offenen Streit über das Thema, das intern durchaus Debatten auslöste, leistet sich die SPD derzeit jedoch nicht. Bei der SPD rutschen die Braunschweiger nach hinten, der erste von ihnen, Bundesarbeitsminister Hubertus Heil mit dem Wahlkreis Peine, kommt erst auf Rang fünf. Er war noch 2021 Landes-Spitzenkandidat der SPD gewesen.
- CDU: Neuer CDU-Spitzenkandidat aus Niedersachsen ist der Osnabrücker Jurist Mathias Middelberg, der sich in den vergangenen Jahren erst als Innen- und dann vor allem als Finanzpolitiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion einen Namen gemacht hat. Auf Rang zwei folgt die Ostfriesin Gitta Connemann, die Bundesvorsitzende der CDU-Mittelstandsvereinigung ist und in diesem Amt bundesweit für klare und meinungsstarke Thesen bekannt ist. Auf Rang drei kommt dann Hendrik Hoppenstedt aus Hannover-Land, der 2021 noch Spitzenkandidat gewesen war. Es fällt auf, dass im vorderen Bereich der Landesliste, der gemeinhin als sicher eingestuft wird, mehrere Vertreter des CDU-Bezirksverbandes Hannover platziert sind, des Heimatbezirks von CDU-Landeschef Sebastian Lechner. Gibt es ein Hannover-Übergewicht bei den Christdemokraten? Die Bezirksverbände Lüneburg und Elbe-Weser sind etwas schlechter vertreten als 2021 – auch deshalb, weil ihre Schwergewichte Enak Ferlemann und Michael Grosse-Brömer nicht mehr kandidieren. Die Braunschweiger CDU kann ihren ersten Kandidaten erst auf Rang acht platzieren, das ist relativ weit hinten und schlecht angesichts der Erfahrung, dass bei der vergangenen Bundestagswahl die Braunschweiger CDU keinen Wahlkreis hatte direkt gewinnen können. Die eher mäßige Platzierung der Braunschweiger ist bei dieser Listenaufstellung eine eigenartige Parallele von Sozialdemokraten und Christdemokraten. Es deutet auf die Schwäche beider großen Parteien in dieser Region hin.
- Grüne: Anders als bei den anderen Parteien lief das Kräftemessen der Flügel bei den Grünen auf offenem Feld ab: Die profilierten Realo-Politiker Viola von Cramon (Göttingen) und Ottmar von Holtz (Hildesheim) traten für gute Listenplätze an – wurden dann aber mit nur sehr mäßigen Wahlergebnissen bestraft. Von Cramon scheiterte ganz, von Holtz musste sich nach zwei erfolglosen Versuchen mit Rang zwölf begnügen, der als nicht sicher gilt. Einige radikale Linke wie Julian Pahlke (Leer) und Timon Dzienus (Hannover) wurden in der Versammlung regelrecht gefeiert für ihre Nominierung. Selbst die Hinweise auf problematische Vor-Empfehlungen bei den Grünen, die vom bisherigen Bundestagsabgeordneten und Realo-Politiker Stefan Wenzel ausgesandt wurden, lösten keine Selbstreflexion der niedersächsischen Grünen über ihren eigenartigen Linkskurs aus. Wenzel verband seine öffentlich geäußerte Kritik mit der Mahnung, eine ausgewogene Liste der Parteiflügel zu wählen. Das war vergeblich. Einmal mehr profiliert sich der niedersächsische Landesverband der Grünen vor dieser Bundestagswahl als extrem fundamentalistisch – und damit als mögliches Hindernis für denkbare Versuche, nach dem 23. Februar eine schwarz-grüne Kooperation auf Bundesebene zu starten. Aber auch eine Annäherung an die FDP mit dem Ziel der Wiederbelebung eines Ampel-Bündnisses dürfte auf den linken Widerstand der niedersächsischen Grünen im Bundestag stoßen. Spitzenkandidatin ist Filiz Polat aus Osnabrück, Rang zwei geht an Helge Limburg aus Holzminden, Rang drei an Julia Verlinden aus Lüneburg.
- AfD: Die AfD-Landesliste für den Bundestag trägt die Handschrift des Landesvorsitzenden Ansgar Schledde aus der Grafschaft Bentheim. Die beiden Spitzenpositionen gehen an Dirk Brandes und Jörn König aus der Region Hannover – und auch das spiegelt die Machtgewichte in der Partei wider. Gerade Brandes hat sich mit seinem kräftig wachsenden Kreisverband Hannover-Land einen großen Einfluss im Landesverband verschafft. Schledde steuert den Verband, indem er sich vor allem auf die großen Kreisverbände stützt. Auffällig ist auch, dass die rhetorischen Scharfmacher mehr Gewicht in der AfD bekommen als noch bei der Bundestagswahl 2021. Das gilt für Brandes, den Spitzenkandidaten, aber auch für Martin Sichert aus Friesland auf Platz drei. Sichert war noch 2021 als bayerischer AfD-Politiker in den Bundestag gekommen, er ist inzwischen nach Niedersachsen gewechselt und wird vom Landesvorstand gestützt – auch deshalb, weil er den Umgang mit neuen medialen Formen offenbar gut versteht und dabei recht erfolgreich ist. Auch Sichert gilt, etwa in der Corona-Politik, als angriffslustiger Redner. Politiker, die beim AfD-Landesvorstand oder in ihren Kreisverbänden in Ungnade gefallen sind, bleiben ohne Chance bei der Listenaufstellung. Das gilt für den früheren Landesvorsitzenden Frank Rinck aus Uelzen oder für den einstigen Fraktionschef im Landtag, Stefan Marzischewski, dem auch Interesse an einer Bundestagskandidatur nachgesagt worden war.
- FDP: Bundestags-Fraktionschef Christian Dürr aus Ganderkesee (Kreis Oldenburg) ist – wie 2021 – Niedersachsen-Spitzenkandidat der FDP. Auf Rang zwei folgt der Landesvorsitzende Konstantin Kuhle aus Göttingen, auf Rang drei Anja Schulz aus Celle, Platz vier geht an den Vize-Landesvorsitzenden Gero Hocker aus Verden, fünf an Robert Reinhardt-Klein aus Hannover. Die Listenaufstellung verläuft relativ unspektakulär und ohne größeren Streit. Jens Beeck, Bundestagsabgeordneter aus dem Emsland, muss mit Position sechs Vorlieb nehmen – nachdem er 2021 noch auf Platz zwei gestanden hatte.
- Linke: Die Linkspartei in Niedersachsen setzt ganz auf die Sprecherin der Bundestagsgruppe, Heidi Reichinnek. Sie steht auf Position eins, auf zwei folgt der VW-Arbeiter Cem Ince aus Salzgitter. Zwei Linken-Politiker mit nicht unwichtigen Rollen im gegenwärtigen Landesvorstand mussten harte Niederlagen erleiden: Landesgeschäftsführer Christoph Podstawa aus Hannover unterlag auf Platz zwei gegen Ince, die Landesvorsitzende Franziska Junker aus Leer verlor auf Position drei gegen die Gewerkschafts-Bedienstete und einstige Landesgeschäftsführerin Maren Kaminski aus Hannover.
- BSW: In aller Abgeschiedenheit und weitgehend ohne Pressebegleitung stellte das BSW seine Landesliste auf. Platz eins geht an die Bundessprecherin Amira Mohamed Ali aus Oldenburg. Sie und ihr Mann Holger Onken bilden das Machtzentrum des BSW-Landesverbandes, beide steuern offenbar sehr stark die Personalauswahl. Position zwei der Landesliste geht an den Hausarzt Thorsten Renken aus dem Ammerland, der auch einer der beiden Landesvorsitzenden ist. Platz drei geht an den Landesgeschäftsführer Johannes Zang aus Hannover. Mehrere Politiker, die einst bei der Linkspartei aktiv waren, sind jetzt zum BSW gewechselt – etwa der Oldenburger Rechtsanwalt Hans-Henning Adler, einst Linken-Fraktionschef im Landtag, oder Lars Leopold aus dem Kreis Hildesheim, einst Linken-Landesvorsitzender.
Dieser Artikel erschien am 09.01.2025 in der Ausgabe #004.
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