Eigentlich hätten die FFH- und Vogelschutz-Gebiete in Niedersachsen schon seit einem Jahrzehnt ausgewiesen und gesichert sein sollen. Doch mit der Umsetzung dieser EU-Richtlinie tut sich das Land offenkundig sehr schwer. Vor mehr als fünf Jahren hat die EU-Kommission deshalb ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland in Gang gesetzt, Anfang dieses Jahres verschärfte sie den Druck noch einmal und kündigte eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) an. Horrende Summe an Strafzahlungen stehen im Raum, sollte Deutschland die Richtlinie nicht rechtzeitig umgesetzt haben und vor Gericht unterliegen. Doch wie ernst ist die Lage wirklich? Angesichts der Dauer des Verfahrens und mehrerer Fristverschiebungen könnte der Eindruck entstehen, die Situation sei entspannt. Doch ganz so unproblematisch ist die Angelegenheit gerade für Niedersachsen nicht.

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Es ist zunächst einmal nicht ungewöhnlich, dass die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen einen EU-Mitgliedsstaat verhängt. Monatlich veröffentlicht die „Hüterin der Verträge“ Erklärungen, dass wieder in diesem oder jenem Bereich rechtliche Schritte eingeleitet wurden. In diesem Jahr hat sie etwa bekanntgegeben, dass Deutschland in den Bereichen Umwelt, Arbeitsschutz, Datenschutz, Energie und Verkehr nachbessern müsse – eine nachdrückliche Erinnerung. Bei der Habitat-Richtlinie gab es diese erste formale Benachrichtigung allerdings bereits im Februar 2015. Zu diesem Zeitpunkt war die Richtlinie schon lange in Kraft getreten und die Frist zur Umsetzung deutlich verstrichen. Mit der formalen Eröffnung des Vertragsverletzungsverfahrens sind die Bundesregierung und die EU-Kommission in die erste, in diesem Fall sehr ausgedehnte Phase eines behördlichen Verfahrens eingestiegen, in der sie sich bis heute noch befinden.

Jahrelanges bürokratisches Hin und Her

In der Zwischenzeit hat die Bundesregierung immer wieder Informationen über den Stand der Umsetzung der Habitat-Richtlinie an die EU geliefert. Es gab aber auch regen Austausch über die Auslegung einzelner Paragraphen der Richtlinie. So argumentierte die Bundesregierung beispielsweise, sie sei von einem zweistufigen Verfahren bei der Umsetzung ausgegangen – zuerst die Ausweisung der Gebiete und dann die Festlegung von Erhaltungszielen. Für die EU-Kommission ist dies aber nur ein Schritt, weshalb sie die Schutzgebiete als unzureichend gesichert wertet, solange die Erhaltungsziele nicht definiert wurden. Im Januar 2019 ergänzte die Kommission ihre erste formale Benachrichtigung noch um weitere Punkte – eine Vorbereitung zur weiteren Eskalation des Verfahrens.

Die nächste Eskalationsstufe wurde sodann im Februar 2020 erreicht, als die EU-Kommission die „mit Hinweisen versehene Stellungnahme“ übersandt hat. In dem mehr als 100 Seiten starken Schriftstück von EU-Umwelt-Kommissar Virginijus Sinkevičius, das dem Politikjournal Rundblick vorliegt, wird detailliert aufgelistet, wie das Verfahren bisher abgelaufen ist, welche Argumente ausgetauscht wurden und weshalb die EU-Kommission dennoch an ihrer Auffassung festhält, dass die Bundesrepublik ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen ist. Corona-bedingt wurde die Frist für eine Stellungnahme im April noch einmal um zwei Monate aufgeschoben, doch allmählich nimmt der Druck auf Deutschland deutlich zu. Irgendwann zwischen heute und vielleicht April 2021 kann das Kollegium der EU-Kommissare entscheiden, Klage zu erheben.

Mit der Klageerhebung vor dem EuGH begönne dann zunächst ein Gerichtsverfahren, das knapp anderthalb Jahre dauern dürfte. Am vorläufigen Ende des Verfahrens würde das Gericht ein Feststellungsurteil fällen – und ab diesem Zeitpunkt könnte die Angelegenheit auch teuer werden. Allerdings nicht sofort, denn die Sanktionen greifen erst nach einer gewissen Frist. Gelänge es Deutschland, die EU-Richtlinie innerhalb dieses Zeitfensters von etwa einem Jahr doch noch umzusetzen, könnte eine Strafzahlung noch abgewendet werden, dann bliebe das erste Gerichtsurteil ungefährlich. Die Bundesregierung geht aktuell davon aus, bis 2023 alle Vorgaben erfüllen zu können.

Käme die EU-Kommission allerdings zu dem Ergebnis, dass selbst ein Jahr nach dem Feststellungsurteil des EuGH noch nicht alle Vorgaben umgesetzt wurden, begönne vor Gericht ein Sanktionsverfahren, das nach rund drei weiteren Jahren zu einem Sanktionsurteil führen könnte. Zum Vergleich: In dieser, dann durchaus heiklen Phase befindet sich Deutschland derzeit in einer anderen Angelegenheit, die wegen zeitlicher Verschleppung  für reichlich politischen Sprengstoff sorgt: die unzureichende Umsetzung der Nitrat-Richtlinie von 1991.

Teuer wird es frühestens Ende 2024

Zurück zur FFH-Planung: Ab dem Sanktionsurteil würde es dann, also frühestens Ende 2024, sicher teuer: Die Bundesrepublik müsste rückwirkend ab dem Zeitpunkt des ersten Feststellungsurteils ein pauschales Strafgeld zahlen. Hinzu käme noch ein tägliches Zwangsgeld, das entrichtet werden muss, bis Deutschland schließlich doch die EU-Richtlinie umgesetzt hat. Für die Berechnung der Strafzahlungen verfügt die EU über eine komplizierte Berechnungsmethode. Neben einem festgelegten Grundbetrag spielt auch eine Rolle, wie schwerwiegend der Verstoß ist, und welcher Mitgliedsstaat betroffen ist.

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Beim täglichen Zwangsgeld wird noch berücksichtigt, wie lange der Staat schon wusste, dass er hätte handeln müssen – in diesem Fall also seit 1992, als die Habitat-Richtlinie beschlossen wurde. Für die Bundesrepublik ergibt sich aktuell ein Pauschalbetrag von bestenfalls 4800 Euro, schlimmstenfalls 96.000 Euro, die für jeden Tag zwischen dem ersten und dem zweiten Urteilsspruch zu zahlen wären. Das tägliche Zwangsgeld changiert nach der aktuellen Berechnungstabelle irgendwo zwischen 14.000 Euro und 863.000 Euro, wobei bei dieser Fallkonstellation von der höheren Summe auszugehen sein dürfte.

Umweltminister Lies drückt aufs Tempo

Für Niedersachsen ist dabei besonders pikant: Der Bund kann die Kosten an diejenigen Länder weiterreichen, die sie verursacht haben. Niedersachsen ist eindeutig das Schlusslicht bei der Umsetzung der Habitat-Richtlinie. Im Frühjahr hatte das Land nur 297 der 385 FFH-Gebiete ausreichend gesichert, einen aktuellen Stand hat das Ministerium seitdem noch nicht wieder erfasst. Bei der Aufteilung der Kosten zwischen den betroffenen Ländern wird allerdings nicht weiter unterschieden, wer seine Arbeit am schlechtesten gemacht hat. Die Verteilung würde nach dem Königsteiner Schlüssel gewichtet – eine Regelung, die zusätzliche Spannungen zwischen einzelnen Bundesländern verursachen könnte. Für Niedersachsen hieße das über den Daumen zehn Prozent.

Niedersachsens Umweltminister Olaf Lies (SPD) versucht in der Zwischenzeit, den Druck aus Europa entsprechend in die Landkreise und kreisfreien Städte umzuleiten. Bis Mitte Oktober sollten die Kreistage alle Schutzgebiete europarechtskonform sichern, andernfalls wollte Lies die Landräte anweisen, dies ohne vorherige Beteiligung der Kommunalvertretungen zu erledigen. Noch immer sind aber nicht alle Sicherungen abgeschlossen, wie das Umweltministerium auf Rundblick-Nachfrage bestätigte. Ob man in Brüssel das Engagement der niedersächsischen Landesregierung wohlwollend zur Kenntnis nimmt und deshalb mit einer Klageerhebung noch etwas wartet? Vielleicht. Bislang musste Deutschland jedenfalls noch nie zahlen.

Von Niklas Kleinwächter