Katharina Sterzer hat einen Job, den sie eigentlich nicht haben will. So in etwa beschreibt sie ihn zumindest selbst. Als sie sich vor gut zwei Jahren als neue Geschäftsführerin der Asphalt gGmbH beworben hat, habe sie gesagt, sie hoffte, dass es ihre eigene Stelle möglichst bald nicht mehr geben muss. „Eigentlich möchte ich in ein bis zehn Jahren für alle unsere Mitarbeiter Auflösungsverträge unterschreiben“, betont sie mit Nachdruck, „weil es uns dann nicht mehr braucht.“ Doch noch braucht es „Asphalt“ – und das schon seit 30 Jahren. In diesem Jahr hat die Straßenzeitung, die 1994 in Hannover gegründet wurde, ihr Jubiläum gefeiert. Doch der Chefin war dabei gar nicht zum Feiern zumute. „Wir sind da, weil andere es nicht sind“, sagt sie im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick und berichtet von „riesigen Bauchschmerzen“, die ihr dieses Jubiläum bereitet habe. 30 Jahre später – und Wohnungslosigkeit ist immer noch ein Problem in Hannover und ganz Niedersachsen.

Großer Bahnhof, aber kein Grund zum Feiern: „Asphalt“ ist in diesem Jahr 30 geworden. | Foto: Kleinwächter

Vorangetrieben hat die „Asphalt“-Gründung Anfang der 1990er Jahre der damalige Diakoniepastor Walter Lampe. Mit seinen Mitstreitern, wie beispielsweise der Fotografin Karin Powser, machte er aus der kleinen Obdachlosen-Postille „Hiobsbotschaften“ ein soziales Projekt. Die Grundidee damals: Statt zu betteln, verkaufen die Bedürftigen der Stadt eine richtige Zeitung – auf Augenhöhe und mit Stolz auf ein Produkt von Wert. Auch wenn Lampe und Powser beide inzwischen verstorben sind, hat sich an diesem Modell fast nichts geändert. Noch immer wird das monatlich erscheinende „Asphalt“-Magazin von einer professionellen Redaktion und einer Gruppe freier Journalisten erstellt. Seit Jahren steht Volker Macke an der Spitze der Redaktion, die zuletzt allerdings kleiner geworden ist. Die Verkäufer erwerben die Ausgaben zu einem festen Preis – aktuell sind das 1,10 Euro – und verkaufen sie auf der Straße für das doppelte. Alles, was die Verkäufer erhalten, gehört dann ihnen. Allerdings tragen sie auch das unternehmerische Risiko und sollten nicht mehr Zeitungen einkaufen, als sie dann auch loswerden können. Der Vertrieb gewährt lediglich eine Kulanz bis zu zehn Exemplaren, die zurückgegeben werden können. All das ist Teil eines Ansatzes, der auf Selbstständigkeit und damit auch auf Selbstwirksamkeit setzt.

„Asphalt ist eine soziale Straßenzeitung, die Hilfe zur Selbsthilfe ermöglicht“, sagt Katharina Sterzer. „Wir holen die Menschen dort ab, wo sie stehen.“ Dabei gehe es also immer auch um soziale Arbeit, wobei der Verkauf von „Asphalt“ nicht für jeden die richtige Lösung sein müsse. Manchmal wird auch nur beim Lebenslauf geholfen, bei Schlafstörungen beraten, die Notfalltasche fürs Krankenhaus besorgt oder einfach ein zweiter Hamster organisiert, weil der andere gestorben ist. Das Verhältnis zwischen Publikation und Hilfeprojekt lässt sich dabei nicht eindeutig bestimmen. „Wir haben intern die Diskussion, ob ‚Asphalt‘ ein Magazin hat oder ob es eines ist“, sagt Katharina Sterzer. Sie selbst lässt die Antwort gerne offen. Drei feste Redakteure gibt es, zwei Vertriebsmitarbeiter in Hannover, weitere in Göttingen und Oldenburg, zwei Verwaltungskräfte, einen Grafiker und einen Sozialarbeiter. Keine dieser Stellen ist in Vollzeit besetzt, berichtet Sterzer – ihre eigene auch nicht.

Dass „Asphalt“ keine Obdachlosenzeitung ist, muss Katharina Sterzer Externen unterdessen immer wieder aufs Neue erklären. Weder wird das Magazin von Obdachlosen geschrieben, noch sind sie dessen Zielgruppe, führt sie aus. Von den 240 Verkäufern seien aktuell auch lediglich zwei tatsächlich obdachlos. Adressieren möchte man vielmehr die Mitte der Gesellschaft. Dabei sei „Asphalt“ ein zutiefst politisches Magazin, ohne aber parteipolitisch zu sein. „Wir wollen nicht den erhobenen Zeigefinger, aber wir hinterfragen Themen.“ Die Ausrichtung beschreibt sie als sozialkritisch und das Magazin versteht sich als „soziale Stimme“ Hannovers und Niedersachsens. Die Grenze zum Lobbyismus ist gleichwohl fließend, denn die Themen im Magazin sind häufig jene, für die sich die gemeinnützige Verlagsgesellschaft auch politisch einsetzt. Bezahlbarer Wohnraum, „Housing first“ und aktuell dieses: „Die Zuverdienstgrenze ist seit Jahren nicht angehoben worden“, kritisiert Sterzer beispielsweise. „Wir finden, die müsste mindestens verdoppelt werden, um die Motivation zum Dazuverdienen zu erhöhen.“

„Asphalt“-Geschäftsführerin Katharina Sterzer | Foto: Lada

Wenn Sterzer „wir“ sagt, meint sie an dieser Stelle „Asphalt“ als Ganzes aber auch den Verbund der Straßenzeitungen insgesamt. Das Magazin aus Hannover ist Mitglied im „INSP“, dem International Network of Street Papers. Unterhalb dieses Daches gibt es außerdem einen Zusammenschluss aller deutschsprachigen Publikationen. „Asphalt“ spielt seit Jahren weit vorne mit, ist nach eigenen Angaben zumindest von der Vertriebsfläche her die größte der deutschsprachigen Straßenzeitungen, nicht aber nach Auflage oder Zahl der Verkäufer. Der Zusammenhalt zwischen den sehr unterschiedlichen Angeboten ist groß. Etabliert sind etwa auch „Hinz & Kunzt“ in Hamburg, „Biss“ in München, „fiftyfifty“ in Düsseldorf oder „BoDo“ in Bochum und Dortmund. Neben der politischen Abstimmung gibt es auch einen regen redaktionellen Austausch. Außerdem pflegen die Magazine eine Art Nichtangriffspakt: Die Verkaufsgebiete sind klar zugeteilt, niemand wildert im Bezugsgebiet des anderen. So hat sich „Asphalt“ in den zurückliegenden Jahren in Niedersachsen immer weiter ausgebreitet, es gibt eigene Außenstellen in Celle und Oldenburg, außerdem eine Fusion mit dem Göttinger „Tagessatz“. In Braunschweig kann man „Asphalt“ unterdessen nicht beziehen, denn dort gibt es mit der „Parkbank“ ein eigenes, wenn auch kleines, aber etabliertes Angebot.

„Unsere echten Verkäufer haben sich über Jahre hinweg das Vertrauen der Bevölkerung erarbeitet. Durch das Auftreten der Fremdverkäufer wird ihr Ruf massiv beschädigt.“

Sogenannte Fremdverkäufer gefährden allerdings seit geraumer Zeit den Frieden auf der Straße. Insbesondere bei größeren Straßenfesten oder jetzt wieder auf dem Weihnachtsmarkt nutzten illegale Verkäufer Straßenzeitungen als Alibi, um aggressiv zu betteln oder gar zu stehlen. Meist bieten sie nicht mal wirklich ein „Asphalt“-Magazin an, sondern eine der Berliner Straßenzeitungen wie „Querkopf“, die billig und auf Masse produziert werden und sich allein aus Werbeanzeigen finanzieren. „Die aktuellen Vorfälle sind alarmierend,“ sagt Katharina Sterzer. „Unsere echten Verkäufer haben sich über Jahre hinweg das Vertrauen der Bevölkerung erarbeitet. Sie sind wichtige Akteure in unserer Stadt und stehen für ein würdiges Miteinander. Doch durch das Auftreten der Fremdverkäufer wird ihr Ruf massiv beschädigt.“ Wer das „Asphalt“-Magazin verkaufen will, erhält vom Vertrieb eine Verkäuferlizenz, außerdem gelten bestimmte Regeln: Verkauft wird nur an den dafür zugewiesenen, abgestimmten Orten. Außerdem sind die aktive Ansprache von Passanten und erst recht das aggressive Betteln untersagt. Wer aber den Unterschied nicht kennt, mag die Fremdverkäufer mit den echten „Asphalt“-Verkäufern gleichsetzen und wird so abgeschreckt, kauft vielleicht nie wieder.

Eine derartige Rufschädigung kann auch einer etablierten Einrichtung wie „Asphalt“ das Genick brechen. Und angeknackst ist es bereits. Denn wie bei vielen Printprodukten ist auch die Auflage von „Asphalt“ seit Jahren rückläufig. Lag die Auflage in der Anfangszeit noch bei 30.000, sind es jetzt nur noch 26.000 Exemplare pro Ausgabe. Und verkauft werden die längst nicht mehr alle. Für die Finanzierung der gemeinnützigen Verlagsgesellschaft spielen die Einnahmen aus dem Verkauf derweil nur eine untergeordnete Rolle, berichtet Sterzer. Der ursprüngliche Verkaufspreis von 1,10 Euro plus das Anzeigengeschäft machten gerade 15 Prozent der Gesamteinnahmen aus, über 80 Prozent kämen über Spenden rein. Die Gesellschafter, die Diakonie und der ursprüngliche Hiob e.V., zahlten nichts, ebenso wenig die Stadt oder das Land. Besonders in Richtung Sommer kommt der Verlag deshalb immer wieder in Zahlungsschwierigkeiten. Sowohl die Kauf- als auch die Spendenbereitschaft ließen in den warmen Monaten nämlich nach, sagt Sterzer und führt das auf zweierlei zurück: Zum einen glaubten wohl viele, die Not sei im Sommer nicht so groß. Zum anderen könnten die Verkäufer aufgrund der Hitze immer seltener auf der offenen Straße stehen – ohne Sichtbarkeit kein Kauf und ohne Kauf keine Spenden.

Prominente Unterstützung: Katharina Sterzer mit Steffen Krach, Margot Käßmann, Axel von der Ohe und Stephan Weil. | Foto: Kleinwächter

Im Jubiläumsjahr hat „Asphalt“ wieder viel Zustimmung aus der Stadtgesellschaft erfahren. Im Sommer verkauften prominente wie Ministerpräsident Stephan Weil (SPD), Alt-Bischöfin Margot Käßmann, Regionspräsident Steffen Krach (SPD) oder der Ordnungsdezernent der Landeshauptstadt Axel von der Ohe (SPD) zusammen mit Sozialdezernentin Silvia Bruns (FDP) eine Sonderausgabe. „Auf die Schulter klopfen hilft uns nicht weiter“, sagt Sterzer, die sich zwar über das Engagement freut, aber die leicht gesprochenen Grußworte auch kritisch betrachtet. „Allein funktioniert ‚Asphalt‘ nicht.“ Die Geschäftsführerin hofft künftig auf mehr Kooperationen und Unterstützungsangebote, auf die „Asphalt“ angewiesen ist. Beispiele dafür gibt es schon: So hat die Werbeagentur „Am hohen Ufer“ pro bono eine Anzeige für „Asphalt“ gestaltet, die Citipost hat eine „Asphalt“-Briefmarke herausgegeben und die hannoversche Kaffeemanufaktur vertreibt eine „Asphalt“-Kaffeemischung.

Eine Baustelle für die nahe Zukunft betrifft die Digitalisierung, die für ein Konzept, das auf dem persönlichen Kontakt und dem Verkauf auf der Straße fußt, besonders herausfordernd ist. „Das ist nicht frei von Schwierigkeiten“, sagt Sterzer über den Versuch, eine digitale Version von „Asphalt“ sowie bargeldloses Bezahlen einzuführen. Nicht alle Verkäufer haben ein Konto, können ein Endgerät bereitstellen oder wollen warten, bis der Vertrieb ihnen das Geld auszahlen kann. Manche fürchten zudem, zum gläsernen Verkäufer zu werden. Katharina Sterzer verfolgt das Ziel, die Straßenzeitung in eine digitale Zukunft zu führen, dennoch weiter. Und wer weiß, vielleicht braucht es ein Projekt wie „Asphalt“ ja wirklich bald schon nicht mehr.