Warum es falsch ist, am Tag der Einheit nicht über die Wiedervereinigung zu reden
Darum geht es: Übermorgen, am Mittwoch, ist der 3. Oktober. Genau zwei Jahre später wird ein großes Fest gefeiert, Deutschland wird dann genau 30 Jahre wiedervereinigt sein. Wer auf die aktuelle politische Debatte schaut, kann sich nur mit Schaudern abwenden – das Thema ist längst zu einer gesellschaftspolitischen Randerscheinung geworden. Das ist ein zentrales Versäumnis, meint Klaus Wallbaum.
Die Rede des damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff am 3. Oktober 2010, dem 20. Jahrestag der Wiedervereinigung, hat wie keine zweite Wellen geschlagen. „Der Islam gehört zu Deutschland“, erklärte das damalige Staatsoberhaupt – und manche halten das heute für den vielleicht wichtigsten Augenblick in der recht kurzen Amtszeit Wulffs. Diese Aussage vor acht Jahren war, rückblickend, ein schwerer Fehler – und das nicht etwa, weil sie inhaltlich nicht berechtigt oder als Debattenanstoß in jener Zeit nicht angemessen gewesen wäre. Natürlich war der Ansatz im Prinzip gut begründet. Ein Fehler war der Satz von Wulff, weil er damit am 3. Oktober ein unausgesprochenes Signal an seine Zuhörer ausgesandt hat: Schaut‘ her, das wichtigste Thema am Tag der deutschen Einheit ist für uns die Integration der Muslime in die Gesellschaft. Das eigentlich angebrachte Thema, das sonst bei derartigen Anlässen im Mittelpunkt stand (oder hätte stehen sollen), war für Wulff damals zweitrangig – nämlich das Zusammenwachsen von West- und Ostdeutschland.
Ob es übermorgen wieder so läuft? Ob die Festredner wieder eine Botschaft finden, die mit der Wiedervereinigung allenfalls indirekt zu tun hat? Für das, was 2010 geschah, gibt es Erklärungen. Typisch Wulff, könnte man sagen. Denn der damalige Bundespräsident ist in seiner politischen Prägung ein „Wessi“ (wie man die Westdeutschen im Osten nennt). Er ist aufgewachsen in Osnabrück, wo die Niederlande stets näher gelegen haben als die DDR. So verwundert es nicht, dass Wulff 2010 in seiner Rede indirekt verkündete, das Zusammenwachsen von West und Ost sei auf gutem Wege, man könne sich jetzt anderen Themen zuwenden. Ähnlich hatte vor ihm schon eine Politikergeneration früher agiert, beispielsweise Gerhard Schröder, der als niedersächsischer Ministerpräsident 1985 die Forderung von Erich Honecker, die Erfassungsstelle über DDR-Grenzunrecht in Salzgitter aufzulösen, für „berechtigt“ hielt. Armes Deutschland!
Nun haben wir seit 13 Jahren eine Kanzlerin, die aus Ostdeutschland stammt und der man bestimmt nicht nachsagen kann, die Ost-West-Probleme zu negieren. Lange hatten wir auch einen Bundespräsidenten Joachim Gauck, der das Ost-West-Thema ständig auf der Agenda hatte und dazu hervorragende Reden gehalten hat. Trotzdem bleibt gegenwärtig das Gefühl, dass gerade in der gesellschaftlichen Wirklichkeit viele West- und Ostdeutsche nebeneinander existieren statt miteinander. In der alten Bundesrepublik schaut man auf schöne Städte in Dresden, Erfurt und Potsdam – die älteren sehen die Differenz zu 1989 und freuen sich, wie weit die Aufholjagd des Ostens gediehen ist. In der ehemaligen DDR erkennt man diese Fortschritte durchaus, fühlt sich aber heute wie vor 28 Jahren als eine abgelegene Filiale des Westens – und leidet aktuell mehr darunter als damals.
In der Politik mögen die Ostdeutschen eine wichtige Rolle spielen, zumindest in einigen Spitzenpositionen. Aber die deutsche Gesellschaft tickt trotzdem überwiegend westdeutsch. Die Wirtschaft wird in ihren Führungszentralen vom Westen bestimmt, in der Wissenschaft ist westliche Dominanz ebenso vorhanden. Wie sehr das auch für die überregionalen Medien gilt, beweist der Umgang mit den Demonstrationen in Chemnitz. Zu Recht beklagen sich viele Ostdeutsche, dass die Berichterstattung darüber verzerrt, übertrieben und einseitig geschehen ist – fern von jeglichem Bemühen um Objektivität. Der „Spiegel“ titelte mit dem Wort „Sachsen“, teilweise in Buchstaben aus den dreißiger Jahren geschrieben, darunter die Unterzeile „Wenn Rechte nach der Macht greifen“. Wie kann man deutlicher ausdrücken, wie wenig Verständnis oder Einfühlungsvermögen westdeutsche Medienmacher für die Entwicklungen im Osten aufbringen?
Tatsache ist: Den Ostdeutschen wurde nach 1989 sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftspolitisch eine Anpassungsleistung abverlangt, die viel gewaltiger war als die, die auf die Westdeutschen wartete. Im Ergebnis müssen sie feststellen, dass trotz ostdeutscher Kanzlerin, trotz Hauptstadt in Berlin und trotz des erfolgreichen Solidarpakts alle wichtigen Fragen in der Republik aus einem westlichen Blickwinkel heraus entschieden werden. Im Osten meinen viele, was angesichts der dort geringen Zahl an Zuwanderern irrational ist, dass auch die Aufnahme der vielen Flüchtlingen ein Beispiel dafür sei. Hier zeigt sich, wie sehr die Debatten von verletzten Gefühlen und aufgewühlten Stimmungen bestimmt sind. Was kann man dagegen tun? Ein Anfang wäre es, die gegenwärtige Ost-West-Teilung, die es immer noch gibt, zumindest nicht zu negieren – wenigstens nicht am 3. Oktober.