Warum die Reform der Landtags-Wahlkreise so schwer fällt
Die Mahnung des unabhängigen „Gesetzgebungs- und Beratungsdienstes“ (GBD) Ende Mai hatte es in sich: In einer öffentlichen Sitzung des Innenausschusses betonte eine Vertreterin der Landtagsjuristen, das Parlament solle sich nun bitteschön mal beeilen. Der Zuschnitt der Landtagswahlkreise sei so wie bisher nicht mehr in Ordnung, es müsse eine Veränderung her. Und der Wunsch der Landeswahlleiterin Ulrike Sachs, schon vor knapp zwei Jahren im Landtag vorgetragen, sei immer noch nicht erfüllt worden. Sachs hatte seinerzeit gesagt, die Parteien mögen doch bitte bis Ende Februar 2021 einen Plan präsentieren. Jetzt ist Ende Juli, passiert ist bisher nichts. Dabei hatte die GBD-Vertreterin doch gesagt: Wenn weiter nichts geschieht, könnte die nächste Landtagswahl juristisch erfolgversprechend angefochten werden.
Das Problem liegt an der Norm. Wie stark die politischen Kräfte im Landtag sein werden, hängt von den Zweitstimmen ab, also davon, wie das Kräfteverhältnis der Parteien, die über fünf Prozent der Stimmen erhalten, im Landtag sein wird. Das ist die eine, die unproblematische Seite. Die andere Seite betrifft die Frage, welche Abgeordneten der Parteien in das neue Parlament kommen. Dort spielen die Erststimmen eine wichtige Rolle – denn derjenige, der in einem der 87 Wahlkreise die Nase bei den Erststimmen vorn hat, gewinnt den Wahlkreis und zieht auf jeden Fall in den Landtag ein. Er wird auf die Zahl der Mandate, die laut Zweitstimmenergebnis als Fraktionsstärke seiner Partei herauskommt, angerechnet.
Damit es gerecht zugeht, müssen alle 87 Wahlkreise in etwa gleich stark sein, sie dürfen vom Durchschnittswert (69559 Wahlberechtigte) nicht zu stark abweichen. Für zwei Wahlkreise allerdings trifft das derzeit nicht zu: Lüneburg im Norden liegt um mehr als 27 Prozent über dem Durchschnittswert, Einbeck im Süden um 25,4 Prozent darunter. Das ist ein Trend, der sich beständig fortsetzt. Toleriert werden aber maximal 25 Prozent – das heißt, in beiden Fällen muss etwas verändert werden.
Die SPD in Südniedersachsen will nicht
Die einfachste Lösung wäre nun, im Süden den Wahlkreis Einbeck aufzulösen und ihn dem benachbarten Northeim zuzuschlagen, vielleicht auch einen Teil an Holzminden. Dann könnte das Gebiet in Lüneburg um einen neuen Wahlkreis bereichert werden, die Hansestadt würde sich in zwei Wahlkreise aufteilen. Eine Charme hätte diese Lösung auch deshalb, weil man ohne größeren Aufwand eine dauerhafte Variante etablieren würde, ohne an der Zahl der Wahlkreise generell etwas zu ändern. Doch aus der SPD in Südniedersachsen kam ein Nein, der für Einbeck zuständige Abgeordnete Uwe Schwarz (Bad Gandersheim) wehrt sich gegen die Auflösung seines Wahlkreises.
Ob das auch eine Spätfolge der Kreisreform von 1974 ist, als die Einbecker dem ungeliebten Northeim zugeordnet wurden und auf ihren Autokennzeichen nun „NOM“ zu tolerieren hatten? Wer heute durch Einbeck fährt, sieht auffallend viele Kennzeichen „EIN“ – die Ausnahmeregel, alte Buchstabenkombinationen wieder nutzen zu dürfen, wird reichlich beansprucht. Es ist auch eine parteipolitische Frage. In Südniedersachsen hält die SPD acht von neun Wahlkreisen (drei in Göttingen, zwei in Northeim/Einbeck, zwei in Goslar und einer in Holzminden). Damit zeigt die Sozialdemokratie ein stolzes politisches Gewicht in einer eher schwächelnden, weil überalternden Gegend.
Die Befürworter der These, dass im Süden ein Wahlkreis entfallen sollte, argumentieren nun so: Drei der acht SPD-Landtagsabgeordneten aus Süd-Niedersachsen wollen im September den Beruf wechseln – Frauke Heiligenstadt (Northeim) will in den Bundestag, Alexander Saipa (Goslar) will Landrat werden, Petra Emmerich-Kopatsch (Seesen) Bürgermeisterin von Clausthal-Zellerfeld. Sollte nun zur Landtagswahl 2022 kein Wahlkreis in diesem Gebiet wegfallen, so dürfte dies zur Landtagswahl 2027 wegen der beständig weiter schrumpfenden Bevölkerung wohl unausweichlich werden.
Das hieße: Wenn die drei SPD-Landtagsabgeordneten in wenigen Wochen ihre neuen beruflichen Ziele erreichen, muss die SPD in der Region 2022 mindestens drei frische Landtagskandidaten aufstellen, die dann bei erfolgreicher Wahl spätestens 2027 vor der harten Aufgabe stünden, dass wenigstens einer von ihnen nach schon einer Wahlperiode wieder aufhören müsste – weil sein Wahlkreis dann ziemlich sicher nicht mehr bestehen kann. Das ist ein Grund dafür, warum man lieber jetzt den voraussichtlichen Abgang von Heiligenstadt, Saipa und Emmerich-Kopatsch nutzen sollte und der Aufschub der Reform auch parteistrategisch für die SPD wenig sinnvoll wäre.
Der andere betrifft die regionalen Zuschnitte: Wenn man partout jetzt keinen Wahlkreis im Süden auflösen will, hilft vor der Wahl 2022 nur das Hin- und Herschieben von Gemeinden mit dem Ziel, die kleinen Wahlkreise noch um einige Wahlberechtigte aufzupeppen. Dann wären plötzlich ganz viele Landkreise im Land betroffen. Bockenem und Lamspringe müssten, obwohl im Kreis Hildesheim verhaftet, an Einbeck angegliedert werden. Oder man würde im Göttinger Raum etwas wegnehmen und Northeim/Einbeck zuschlagen. Im Norden müsste Amelinghausen, obwohl mit Lüneburg verwurzelt, zum Wahlkreis Soltau kommen. Diese Aussichten schaffen nun landesweit in allen Parteien einige Unruhe, denn die Wahlkreis- würden noch stärker von den Landkreisgrenzen abweichen. Das sorgt für Aufregung – und erhöht den Druck auf die Koalition, das Tabu des Wahlkreises Einbeck doch anzutasten.
Dass all dies nun noch zügig geschieht und eine eilig gestrickte Reform noch im September den Landtag passieren könnte, gilt mittlerweile als eher unwahrscheinlich. Die Akteure werden vorsichtig. Das Thema könnte auf den Kommunalwahlkampf herüberschwappen – und für die Gegner einer Wahlkreisreform im Süden wäre das Munition im Kampf gegen „die Schwächung der Region“. Aber so verständlich es auch ist, dass die Süd-Niedersachsen es nicht hinnehmen wollen, dass aus ihren Reihen bald ein Wahlkreisabgeordneter weniger im Landesparlament sitzen würde – gerecht wäre es schon: Niedersachsen wandelt sich eben, und das Nord-Süd-Gefälle hat nun mal seinen Preis. Mit dem gleichen Recht könnten nämlich die Lüneburger irgendwann behaupten, dass sie im Landesparlament unterrepräsentiert sind. An der Bevölkerungsentwicklung ist es ablesbar.
Inzwischen mehren sich die Anzeichen für eine Festlegung des Landtags im November oder Dezember – auf jeden Fall nach der Kommunal- und Bundestagswahl, wenn feststeht, welche Sozialdemokraten aus Süd-Niedersachsen tatsächlich ihren Abschied aus der Landespolitik nehmen. Das wäre dann allerdings auch höchste Zeit, denn die Landtagswahl dürfte am 9. Oktober 2022 sein, eventuell sogar noch einige Wochen früher. Die ersten Kandidaten dafür könnten bald schon aufgestellt werden – obwohl derzeit völlig unklar ist, wie die Wahlkreiszuschnitte sein werden. (kw)