19. Okt. 2021 · 
Kultur

Warum der Erfinder des VW Käfer früher und auch heute kaum bekannt ist

Wann ist die Gefahr des Antisemitismus besonders groß? Die Teilnehmer des Symposiums „Judentum in Niedersachsen – lebendig, wertvoll und bereichernd“ stimmen in einer Einschätzung weitgehend überein: Judenfeindlichkeit droht überall dort größer und heftiger zu werden, wo das gegenseitige Verständnis fehlt, wo Menschen sich nicht mehr kennen, begegnen und sich nicht mehr untereinander austauschen.

Eigentlich müsste der Autokonstrukteur Josef Ganz als Erfinder des VW Käfer gelten. Warum sein Name heute kaum noch bekannt ist, erklärte der sauerländische Schriftsteller Peter Prange in seinem Vortrag. | Foto: Pixabay, Pexels

Wenn man nur noch übereinander und nicht mehr miteinander redet, haben Vorurteile ihren Raum – auch über Generationen gepflegte und weitergetragene Vorurteile. Wer also Antisemitismus effektiv bekämpfen will, sollte sich für einen besseren Austausch zwischen Juden und Nicht-Juden in Deutschland einsetzen. Wie tiefgreifend diese Aufgabe ist, beschreibt Michael Fürst vom Landesverband der jüdischen Gemeinden: „Antisemitismus reicht viel weiter zurück als in die Zeit des Nationalsozialismus, er ist Jahrhunderte alt.“

Seidler bemängelt: Judentum wird zu oft auf Nahostkonflikt und Shoah reduziert

Wie drückt sich das im Alltag aus? Rebecca Seidler vom Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden berichtete, dass die Pflege des jüdischen Kulturgutes allzu oft noch mit Ängsten und ausgeprägter Vorsicht verbunden ist. Sie hat ihre eigenen Erfahrungen gesammelt. „Viele jüdische Kinder erleben in der Schule Judenfeindlichkeit, und sie verzichten deshalb darauf, ihre nicht-jüdischen Mitschüler zu jüdischen Feiern zu sich nach Hause einzuladen“, erläuterte Seidler. Viele berufstätige Mitglieder ihrer Gemeinde erzählten, dass sie am Arbeitsplatz strikt über ihren Glauben schweigen – um Anfeindungen zu vermeiden. Ganz schlimm sei es vor einigen Monaten gewesen, als die Auseinandersetzungen zwischen dem Staat Israel und den Palästinensern wieder aufgeflammt seien.

"Viele jüdische Kinder erleben in der Schule Judenfeindlichkeit, und sie verzichten deshalb darauf, ihre nicht-jüdischen Mitschüler zu jüdischen Feiern zu sich nach Hause einzuladen.“

Rebecca Seidler vom Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden

Rebecca Seidler meint nun: „Oft wird das Judentum auf die Shoah und den Nahostkonflikt reduziert. Das schreckt vor allem viele junge Menschen ab, sie wollen sich damit nicht beschäftigen – und reagieren teilweise mit Abwehrhaltungen.“ Es dürfe nicht immer der Holocaust oder die aktuelle Politik Israels im Vordergrund stehen – und es dürfe nicht so sein, dass das Bild des typischen Juden das von orthodoxen Männern mit ihren Schläfenlocken ist. Die Vielfalt des Judentums drohe bei solchen Vereinfachungen aus dem Blickfeld zu geraten.

Zu Beginn der Tagung, die vom Antisemitismus-Beauftragten Franz-Rainer Enste organisiert wurde, hatte Justizministerin Barbara Havliza auf die Notwendigkeit eines klaren und unmissverständlichen Regelwerks in der Gesellschaft hingewiesen. „Wenn ein siebenjähriger Junge auf dem Schulhof zu seinem Mitschüler ,Du Jude‘ ruft – dann weiß er in den meisten Fällen nicht, was er sagt. Aber es ist dann die Aufgabe der Erwachsenen, ihm die Zusammenhänge klar zu machen.“ Havliza verteidigte die Linie der „Null-Toleranz-Strategie“, die beispielsweise in einer gemeinsamen Bundesratsinitiative von Niedersachsen und Bayern zum Ausdruck kommt. Die hasserfüllten Botschaften, die im Internet auftauchen, müssten auch ohne Strafantrag verfolgt werden können. Nicht jede rassistische Aussage sei auch antisemitisch – aber beides müsse konsequent verfolgt werden. Richter und Staatsanwälte müssten ständig sensibilisiert werden für diese Themen. 

Kluge Menschen wurden verfolgt: NS-Zeit schädigte die deutsche Kultur schwer

Der sauerländische Schriftsteller Peter Prange riet in seinem Vortrag wegen der nach wie vor aktuellen Judenfeindlichkeit zu zwei Verhaltensweisen – Rückbesinnung und Selbstbesinnung. Man müsse sich für das interessieren, was geschehen ist – und man müsse sich fragen, wie viel Antisemitismus heute in jedem selbst noch stecke. Prange, der in mehreren Büchern jüdische Einzelschicksale beschrieben hat, sieht vor allem zwei Besonderheiten des Judentums: Keine Kultur sei so sehr auf Bildung und Debattierfreude eingestellt wie die jüdische, das ständige Infragestellen der Wirklichkeit führe zu Kreativität, Erfindungsreichtum und Phantasie. Die Nazis hätten mit der Ermordung von sechs Millionen Juden nicht nur das schwerste Verbrechen der Menschheitsgeschichte begangen, sondern zugleich die deutsche Kultur schwer geschädigt, indem etliche kluge Menschen vertrieben und verfolgt wurden. Als Beispiele erwähnte Prange den Autokonstrukteur Josef Ganz, der als eigentlicher Erfinder des VW Käfer gelten müsse. Da man aber in Deutschland am Mythos, Ferdinand Porsche habe dieses Auto erfunden, nicht habe rütteln wollen, sei Ganz heute fast vergessen. Die Nazis hätten ihn ins Ausland gedrängt. Vergessen sei auch Erich Pommer, der als größter deutscher Filmproduzent gelten müsse. Auch mit ihm könne heute kaum noch jemand etwas anfangen. Prange betonte, dass man es sich heute zu einfach mache, wenn man die Schuld für die Judenverfolgung in der NS-Zeit schlicht „den Nazis“ zuweise. Damit werde die Frage verdrängt, wie groß der Anteil der Bürger gewesen sei, die keine Nazis waren, aber bei denen Antisemitismus trotzdem auf fruchtbaren Boden gestoßen sei.

Die ehemalige nordrhein-westfälische Kultusministerin Sylvia Löhrmann riet, sich an der in Hannover geborenen deutsch-amerikanischen Politologin Hannah Arendt zu orientieren. Sie hat einst einen der Hauptverantwortlichen für die Ermordung der Juden, Adolf Eichmann, mit dem Begriff „Banalität des Bösen“ beschrieben. „Sie wollte damit deutlich machen, dass die schlimmen Taten nicht von irgendeinem Dämon von außen stammen, sondern in jedem Menschen selbst auch eine Mitverantwortung stecken kann“, sagte Löhrmann.

Dieser Artikel erschien in Ausgabe #185.
Klaus Wallbaum
AutorKlaus Wallbaum

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