Warum eigentlich war Goslar, die heimliche Hauptstadt des Harzes, der Geburtsort der CDU – nicht nur der niedersächsischen, sondern der bundesrepublikanischen CDU? Es gibt drei mögliche Erklärungen. Die erste lautet, der ein gutes Jahr vorher zum Bundeskanzler gewählte Konrad Adenauer habe einen Ort gesucht, der nah an der Grenze zur DDR lag. Damit habe er ein Zeichen setzen wollen, ein Signal aussenden – als Hoffnungsschimmer an jene Menschen im östlichen Teil Deutschlands, die zwar auch eine CDU kannten, die aber zu jener Zeit keine freie Partei mehr war, sondern schon gleichgeschaltet war.

Die zweite Erklärung ist, dass Goslar den Krieg relativ unbeschadet überstanden hatte, viele Gebäude noch standen und auch ausreichend Übernachtungsmöglichkeiten für die knapp 400 Delegierten und 600 Gäste vorhanden waren. Die junge Partei fand hier also einen würdigen Rahmen für ihren repräsentativen Gründungsakt. Die dritte Variante nun spielt auch die persönlichen Beziehungen an. Adenauer war gut bekannt mit dem Unternehmer, CDU-Mitbegründer und langjährigen niedersächsischen Landtagsabgeordneten Otto Fricke, der im West-Harz zuhause war und gern die Gelegenheit nutzte, seine Heimat zum Ort einer historischen Stunde zu machen.


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Nur: So richtig glanzvoll und wuchtig sollte alles beim ersten CDU-Bundesparteitag vom 20. bis 22. Oktober 1950 in Goslar auch nicht sein, wie der Historiker Andreas Grau schildert: „Von Anfang an wurde der Parteitag als Arbeitstagung und nicht als große politische Demonstration geplant.“ Vielleicht hat das auch etwas mit der Entstehungsgeschichte und dem frühen Selbstverständnis der CDU zu tun. Spöttisch ist wiederholt beschrieben worden, die Christdemokratische Partei und politische Heimat Adenauers sei in ihrer ersten Zeit – während der Kanzlerschaft Adenauers – ein „Kanzlerwahlverein“ gewesen und nicht der programmatische Motor der Politik. Dies wäre wohl auch gar nicht im Sinne Adenauers gewesen, der die Zahl der konkurrierenden Machtzentren möglichst gering halten wollte. Nach ihrem Ursprung zu urteilen, war die CDU auch gar nicht darauf angelegt, möglichst rasch eine schlagkräftige zentrale Organisation aufzubauen.

Anders als die SPD, in der das Parteienverständnis schon wegen ihrer langen Tradition sehr früh nach 1945 schon stark ausgeprägt war, lebt die CDU in ihrer Anfangszeit von ihren regionalen Stärken. An mehreren Orten fanden sich nach dem Kriegsende bürgerliche Kreise zusammen, die eine neue Partei gründen wollten – etwa in Berlin und Köln, Frankfurt und München, Stuttgart und Freiburg. Die Berliner erhoben Anspruch auf die „Reichsleitung“, die Kräfte in Nordrhein-Westfalen, dort sehr stark von der Tradition des katholischen Zentrums der Weimarer Republik geprägt, wurden auch Signale ausgesandt. Die „Kölner Leitsätze“ wurden entworfen. Als in Godesberg im Dezember 1945 ein erstes „Reichstreffen“ der christdemokratischen Gruppierungen stattfand, sollte eigentlich ein Programm beschlossen werden – doch man verständigte sich nur auf den Namen „Christlich-Demokratische Union“. Die Bayern spielten mit ihrer CSU eine Sonderrolle.

Foto: Screenshot/KAS

Noch ohne zentrale Organisation, ohne einheitliches Programm verzeichnete die CDU seit 1946 schon Wahlerfolge in den Ländern und Kommunen. Adenauer war in jener Zeit bereits der starke Mann der CDU in der britischen Zone. In der sowjetischen Zone zeigten sich Jakob Kaiser und Ernst Lemmer beharrlich, wurden aber von der SED immer stärker isoliert und unter Druck gesetzt. Das Schicksal der Ost-CDU spielte Adenauer machtpolitisch in die Hände. Adenauer, ein gewiefter Kommunalpolitiker, stand gegen Jakob Kaiser, den gewerkschaftsnahen Sozialpolitiker, der aber nach dem Verlust seiner Machtbasis einbüßte.

Das Ringen der verschiedenen Kräfte verhinderte eine früher Gründung der Bundespartei, die eigentlich schon für 1948 anvisiert worden war. Damals wurde auch noch versucht, die CSU einzubinden – ohne Erfolg. Bis 1950 existierte lediglich eine Arbeitsgemeinschaft, die das Ziel hatte, das Auftreten der verschiedenen CDU-Verbände zu koordinieren. Dort wurde dann 1950 festgelegt, in Goslar die Partei förmlich zu gründen und einen Vorstand zu wählen. Bewusst wurden Berlin, Frankfurt und Heidelberg, die ebenfalls im Gespräch gewesen waren, abgelehnt.

Adenauer: Erst Kanzler, dann Parteichef

Der Stratege Adenauer hatte Weitsicht bewiesen: Als die CDU gegründet wurde, war er schon der Kanzler, als solcher hielt er eine Ansprache zum Thema „Deutschlands Stellung und Aufgabe in der Welt“ – und konnte mit staatsmännischen Posen glänzen. Außerdem war es ihm so gegeben, seine Politik der Westbindung zu unterstreichen – womöglich zum Missfallen anderer aus dem Osten Deutschlands, die einen anderen Schwerpunkt gesetzt hätten. Wer hätte Adenauer in diesem Moment noch die Wahl zum ersten Vorsitzenden der CDU streitig machen können oder wollen? Sein Widersacher Jakob Kaiser wurde in Goslar zu einem der beiden Stellvertreter gewählt, der andere war Friedrich Holzapfel aus Bielefeld, der schon wenige Jahre später deutscher Gesandter und danach dann Botschafter in der Schweiz wurde. Heute kennt ihn kaum noch jemand. Kaiser war Bundesminister für gesamtdeutsche Aufgaben, erlitt 1957 einen Herzinfarkt und starb 1961 noch vor dem Mauerbau.

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Das Odeon-Theater in Goslar, der Ort des ersten Parteitags, sorgte im vergangenen Jahr für Schlagzeilen. Der Spielbetrieb wurde schon vor Jahren eingestellt, lange Zeit war fraglich, ob nicht irgendwann ein Abriss droht. Doch 2019 wurde der Verkauf an eine Investorengruppe besiegelt, nun sollen dort Wohnungen entstehen, heißt es. Die Fassade immerhin, teilt die Sprecherin der Stadt Goslar mit, bleibt erhalten.

Wenn die CDU also an ihren ersten Parteitag zurückdenkt, wird zumindest das Gebäude wohl in Zukunft dort noch zu sehen sein. Goslar war im Übrigen auch der Geburtsort der Niedersachsen-CDU – sie nutzten das Zusammenkommen zum Bundesparteitag dazu, im Schützenhaus am 20. Oktober eine Vereinbarung zur Gründung eines Dachverbandes der niedersächsischen CDU-Verbände zu unterzeichnen. Ein Dachverband, im Grunde genommen ist die Landespartei das heute noch, denn eigenständige Landesverbände bestehen noch immer in Oldenburg, Braunschweig und Hannover. Das regionale Eigenleben ist in der CDU eben beständig – auch nach 70 Jahren noch.

Von Klaus Wallbaum