Wenn Geschichtsinteressierte auf die Weimarer Republik zurückschauen, sind die Urteile meistens nicht positiv. Kein Wunder, denn bei der Rückschau ist immer das Ende prägend, und das ist nun mal tragisch. Da sieht man das Foto vom 21. März 1933, bei dem sich der damals erst 43-jährige Adolf Hitler gegenüber dem greisen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg verneigt. Dieses Bild beschreibt das ganze Dilemma: Hitler und die Nazis hatten es damals geschafft, in etwa zehn Jahren ihres Wirkens die demokratischen Kräfte so sehr an die Seite zu drängen, dass ihnen die Macht übertragen wurde. Wie schwach also muss die Republik gewesen sein, wie schwach müssen die Demokraten im Staat gewesen sein, dass ihnen am Ende die Kraft und die Mehrheit fehlte, die Macht zu behalten?

Tatsächlich war die Weimarer Republik nicht durchweg schwach. Das Krisenjahr 1923 beispielsweise, das 100 Jahre zurückliegt, wird in der heutigen Wahrnehmung als recht chaotisch beschrieben, besonders starker Ausdruck dafür war die Super-Inflation, an der gemessen die heutige Inflation in der Bundesrepublik eher eine Mini-Geldentwertung ist. Als zweites Ereignis des Jahres 1923, das sich in vielen Köpfen bis heute erhalten hat, ist der sogenannte Hitler-Putsch zu nennen, der Versuch des damals 33-jährigen Politikers, in München und danach in Berlin die Macht an sich zu reißen. Dieser Umsturzversuch endete für die Nazi-Bewegung kläglich, und doch wird heute gemeinhin ein anderer Eindruck vermittelt: Man habe den Putschversuch nicht frühzeitig unterbunden, man habe den Putschisten und seine Helfer nicht ausreichend bestraft, man habe das Verbot seiner Partei und Bewegung nicht konsequent genug durchgehalten. Kurzum: Man sei zu nachsichtig mit ihm und seinesgleichen gewesen. Es hätte doch „Wehret den Anfängen“ heißen müssen, man hätte doch die Bekämpfung der Nazi-Partei zur vordringlichen Aufgabe erklären müssen. Man hätte doch die Justiz, in der es zu viele Nicht-Demokraten gab, konsequent demokratisieren müssen. Hätte man das? Ja, aus heutiger Sicht schon. Aber wer konnte denn 1923 ahnen, dass Hitlers Bewegung in den folgenden zehn Jahren zur stärksten Bedrohung der demokratischen Ordnung wurde?

Das Problem historischer Rückblicke besteht in der Selektion: Es werden bestimmte einprägsame Ereignisse oder Bilder gespeichert, die Zusammenhänge aber verblassen – ebenso wie andere Entwicklungen, die ebenso bedeutend waren, aber vergessen werden. Am Beispiel des Jahres 1923 lässt sich das gut darstellen. Viele Menschen heute wissen von der Hyper-Inflation, von Geldscheinen, die in Schubkarren transportiert wurden. Sie wissen auch vom Hitler-Putsch am 9. November 1923. Aber die Weimarer Republik, damals im fünften Jahr ihres Bestehens, hatte noch weitere große Herausforderungen und Probleme. Da war die Besetzung des Ruhrgebietes durch die Franzosen, begründet mit der angeblichen Nicht-Erfüllung der Reparationen nach dem Kriegsende durch die Deutschen. Der „passive Widerstand“ der Reichsregierung war teuer, es mussten Beamte, Angestellte und Kohle-Arbeiter über Monate bezahlt werden. Dies heizte die Inflation an. Im Rheinland und in der Pfalz waren Separatisten am Werk, die womöglich gar im Interesse Frankreichs handelten und zwischen Deutschland und Frankreich einen eigenen Staat in einer Puffer-Zone schaffen wollten. Das Zerbrechen des Reiches drohte. In Sachsen und Thüringen drängte die KPD an der Seite der SPD in die Landesregierungen, und zumindest in Sachsen wurden sogenannte „proletarische Hundertschaften“ bewaffnet. Aufstände gab es auch in Hamburg. Das diente offensichtlich dem von Moskau ausgegebenen Ziel, die Weimarer Republik zu beseitigen und ein Moskau-treues Regime zumindest im Osten des Deutschen Reiches zu etablieren. Diese Vorgänge, eingeordnet unter dem Begriff „Deutscher Oktober“, sind heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Jüngst hat der Historiker Norbert Frei darauf hingewiesen, dass die KPD damals ebenso wie die NSDAP das parlamentarische System beseitigen wollte.
Die Gefahr für die Republik kam also von drei Seiten – von den Franzosen, von der KPD, die ihre Anweisungen aus Moskau erhielt, und von den Rechtsextremisten. Deutschland drohe zu zerfallen – im Westen an Frankreich, im Osten an die Kommunisten und im Süden an die Rechtsradikalen. Die Reichsregierung ließ den drohenden Aufstand in Sachsen niederschlagen, die Ruhrbesetzung endete, weil der neue Reichskanzler Gustav Stresemann den „passiven Widerstand“ aufgab. In der Folge zog dann auch Frankreich auf Druck von Großbritannien und USA seine Truppen aus dem Ruhrgebiet zurück. Nur in Bayern griff die Reichsregierung nicht ein. Sie hatte zwar für das ganze Reich einen Ausnahmezustand verhängt und auch einen Verwalter eingesetzt, es war in München Otto von Lossow. Dass dieser insgeheim mit rechtsnationalen Kräften gegen die Republik paktierte, wurde entweder nicht erkannt oder nicht als gefährlich genug eingestuft. Immerhin endeten die Putsch-Absichten der verschiedenen, konkurrierenden Kräfte am 9. November 1923 in einem Debakel für alle, die erst in Bayern und dann im Reich die Macht an sich reißen und die Republik vernichten wollten. Aus heutiger Perspektive mag man einwenden, dass die Reichsregierung nicht entschieden genug gegen die rechten Putschisten in München vorgegangen ist, jedenfalls nicht so konsequent wie gegen den kommunistischen Aufstand in Sachsen. Auf der anderen Seite stand hinter den Bestrebungen in Sachsen auch eine ausländische Macht, die Sowjetunion. Sie hatte im Übrigen vor, genau heute vor 100 Jahren, am 9. November 1923, die Macht in Sachsen an sich zu reißen – an jenem Datum, das heute mit Hitlers Putschplan verknüpft wird.
Herrschte folglich in jenem Jahr ein Chaos in der Weimarer Republik? Das sieht oberflächlich betrachtet wohl so aus. Man kann es auch anders sehen. Deutschland war in jener Zeit wirtschaftlich und außenpolitisch geschwächt – durch hohe, unrealistische Reparationspflichten, Machtansprüche von Nachbarstaaten (Frankreich und Sowjetunion) und durch innenpolitische Separationsbestrebungen, teilweise gezielt gestützt von ausländischen Interessen. Fünf Jahre nach der Gründung der Republik agierten vielerorts antirepublikanische Kräfte, gerade auf der rechten Seite, aber auch bei der KPD. In dieser wahrlich nicht einfachen Situation, in der vor allem die Super-Inflation vielen Menschen Angst machte, zeigte die Republik den Aufständischen die Stirn. Keiner der Putschversuche hatte Erfolg, keine Separationsbestrebung wurde zur ernsten Bedrohung. 1923 bewies die Reichsregierung, damals getragen durch SPD, Zentrum, Links- und Rechtsliberale, eine Stärke, die ihr manche wohl nicht zugetraut hatten. Dass die Republik die nächsten zehn Jahre nicht unbeschadet überstehen würde, ist auch wahr – und die Verantwortung dafür kann auch den demokratischen Kräften zugesprochen werden, die irgendwann nicht mehr zusammenarbeiten wollten.
Aber wahr bleibt trotzdem: Wer heute den Hitler-Putsch und seine Folgen als den Anfang vom Ende der Weimarer Republik beschreibt, tut den Republikanern vor 100 Jahren Unrecht. Der genaue Blick auf die geschichtlichen Rahmenbedingungen sollte dazu führen, die handelnden Personen mit Respekt zu betrachten. Zu nennen wären hier vor allem Reichspräsident Friedrich Ebert und der Reichskanzler und Außenminister Gustav Stresemann. Auch viele andere Demokraten agierten seinerzeit. Sie waren sicherlich nicht die Mehrheit, sondern anders als heute in der Minderheit. Aber sie waren noch 1923 stark genug, heftige Anfeindungen abzuwehren.