Ein knapper Kreistagsbeschluss in Helmstedt hat die Debatte über eine Gebietsreform in Niedersachsen wieder losgetreten. Brauchen wir vergrößerte Kreise, wenn wir uns künftig noch überall gutes Fachpersonal leisten wollen? Der Rundblick bereitet das Thema in einer Serie auf. Im ersten Teil äußert sich heute der langjährige Experte im Landesamt für Statistik, Prof. Lothar Eichhorn.

Größere Kreisreformen gab es im 21. Jahrhundert bisher nur in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt. In Niedersachsen ist – anders als in anderen westdeutschen Ländern – durch die Eingliederung des Landkreises Osterode in den Landkreis Göttingen wenigstens ein wenig Bewegung in die Sache gekommen. Das Land ist derzeit in 37 Landkreise, inclusive der Region Hannover, und acht kreisfreie Städte untergliedert. Für den Gebietszuschnitt der Landkreise gilt seit Langem die Faustregel, dass sie mindestens 150.000 Einwohner haben sollten, um eine hinreichende Verwaltungskraft zu entwickeln. Andererseits müssen sie eine gewisse Ortsnähe haben. Eine Ausdehnung wie die der Kreise im dünn besiedelten Mecklenburg-Vorpommern – so ist der Kreis Ludwigslust-Parchim mit 4767 Quadratkilometer flächenmäßig größer als Berlin, Bremen, Hamburg und das Saarland zusammengenommen – ist in Niedersachsen weder erwünscht noch erforderlich.

Muss die Landkarte Niedersachsens überarbeitet werden? -Quelle: www.niedersachsen.de

Eine geringe Einwohnerzahl allein ist noch kein hinreichender Grund für eine Gebietsneugliederung. Wenn aber noch eine schwindende Bevölkerung und ein wirtschaftlicher Bedeutungsverlust hinzukommen, dürfte sehr wohl ein Reformbedarf gegeben sein, der auch den örtlichen Akteuren bewusst ist. Von den seinerzeit 38 Landkreisen lag Ende 2000 nur die Hälfte oberhalb der 150.000-Schwelle, 19 hatten zum Teil deutlich weniger Einwohner. Einer davon, der Landkreis Osterode, ging 2016 im Landkreis Göttingen auf. Drei Kreise, nämlich Northeim (ab 2002), Goslar (ab 2007) und Hameln-Pyrmont (seit 2012) sind aufgrund langfristig rückläufiger Bevölkerungszahlen mittlerweile auch unter diese Schwelle gerutscht. Umgekehrt überschritt der stark wachsende Landkreis Cloppenburg diese Grenze. Es bleiben aktuell 20 Kreise unterhalb der Schwelle.


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Acht von diesen weisen eine zunehmende oder zumindest stagnierende Bevölkerung auf, so dass hier der Reformbedarf eher gering sein dürfte. Trotz der starken Auslandszuwanderung der vergangenen Jahre verzeichneten aber von 2000 bis Ende September 2018 die zwölf Landkreise Goslar, Helmstedt, Northeim, Wolfenbüttel, Hameln-Pyrmont, Holzminden, Nienburg, Lüchow-Dannenberg, Uelzen, Friesland, Wesermarsch und Wittmund eine abnehmende Bevölkerung. Die Abnahmeraten liegen zwischen moderaten minus 2,3 Prozent im Kreis Friesland und bei sehr starken Raten von minus 12 Prozent und mehr in den südlichen Kreisen Goslar, Northeim und Holzminden.

Zehn von zwölf weisen einen relativen ökonomischen Bedeutungsverlust auf

Als weiteres Kriterium kommt die wirtschaftliche Entwicklung seit 2000 hinzu. Welchen Prozentanteil hatten die Landkreise am gesamten Bruttoinlandsprodukt (BIP) Niedersachsens, und wie hat sich dieser von 2000 bis zum aktuellsten Wert 2016 verändert? Eine Verringerung des Anteils bedeutet zwar nicht, dass die Wirtschaft schrumpft, sie verweist aber auf einen relativen ökonomischen Bedeutungsverlust. Unter den genannten zwölf Landkreisen gibt es zwei, nämlich Wolfenbüttel und Wittmund, deren BIP-Anteil am Lande mittelfristig gestiegen ist. Auch hier ist also der Handlungsbedarf aus regionaler Sicht eher gering. In den anderen zehn Kreisen sinkt der regionale Anteil am BIP Niedersachsens.

Den Handlungsbedarf belegen auch weitere fundamentale Daten. In acht der zehn Kreise lag die Arbeitslosigkeit im Februar 2019 höher als im Landesdurchschnitt. Ebenfalls in acht von zehn Kreisen war die Steuereinnahmekraft unterdurchschnittlich. Alle zehn Kreise waren stärker unterjüngt (oder überaltert) als der Landesdurchschnitt: So gab es in Lüchow-Dannenberg Ende 2017 genauso viele Senioren im Rentenalter wie Menschen im Erwerbsalter von 20 bis 65. Dies alles deutet auf künftige Schrumpfungstendenzen und zunehmenden Unterstützungsbedarf hin.


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Handlungsbedarf ist also zumindest in den Kreisen Goslar, Helmstedt, Northeim, Hameln-Pyrmont, Holzminden, Nienburg, Lüchow-Dannenberg, Uelzen, Friesland und Wesermarsch vorhanden. Zusammen umfassen diese derzeit noch gut eine Million Einwohner. Auf diese könnte sich eine Kreisreform konzentrieren. Realistische Fusionsmöglichkeiten sind dann gegeben, wenn die Menschen vor Ort Änderungsbedarf selbst sehen, wenn es größere funktionale Verflechtungen der Räume gibt und wenn nicht Partner, die aus objektiven, historischen und mentalen Gründen nicht zusammenpassen, zwangsweise verkuppelt werden. Mögliche Fusionen kann es etwa zwischen Holzminden und Hameln-Pyrmont, der Wesermarsch und Friesland, Uelzen und Lüchow-Dannenberg, Northeim und Göttingen sowie im Raum Goslar-Salzgitter-Helmstedt-Wolfenbüttel geben. Nienburg könnte sich zur Region Hannover oder nach Diepholz orientieren. Alle diese Änderungen würden den territorialen Zuschnitt der Ämter für regionale Landesentwicklung nicht tangieren. Als Vorbild könnte der Zusammenschluss der Kreise Göttingen und Osterode dienen, der auf Wunsch beider Seiten zustande kam.

Fluch der fetten Jahre?

Große Koalitionen wie die gegenwärtige sind nur dann sinnvoll und für das Land produktiv, wenn breite parlamentarische Mehrheiten erforderlich sind – sei es, weil die Verfassung geändert werden muss oder weil konfliktreiche Vorhaben anstehen, für die eine knappe Mehrheit nicht ausreicht. Die aktuelle Große Koalition könnte ein solches Vorhaben angehen. Derzeit erweckt diese aber den Eindruck, dass die Konflikte zwischen den beiden Parteien immer wieder mit viel Geld gemildert und verkleistert werden, dass man sich auf Nebenkriegsschauplätzen (Wölfe!) verliert und große Vorhaben besser nicht anpackt. Eine Kreisgebietsreform wäre ein großes, zeitaufwendiges und zumindest in den genannten zehn Landkreisen dringend erforderliches Vorhaben. Nur mit dem Prinzip der Freiwilligkeit, unterstützt durch finanzielle Anreize, wird sie wohl kaum zu bewerkstelligen sein. Es müssen jetzt klare räumliche und zeitliche Zielvorstellungen formuliert werden, ein breiter öffentlicher Diskurs muss initiiert werden. Das ist aufwendig, und man schafft sich mit einem solchen Vorhaben nicht nur Freunde. Wenn dieses aber aus Opportunität und Konfliktscheu jetzt nicht angegangen wird, obwohl die Kassen voll sind, die Steuereinnahmen sprudeln und die Regierung eine breite Mehrheit hat, wird man später vom Fluch der fetten Jahre sprechen.