Vom Geiseldrama zum Terror: So hat sich das Polizeitraining verändert
Eine Minute wird zur Ewigkeit, wenn man auf Rettung wartet. Hinter Tafeln und Pfeilern eng zusammengekauert, harren die schockierten Reisenden aus, die Schmerzensschreie der Verletzten hallen von den Wänden wieder. Doch die vermummten Attentäter gehen weiter seelenruhig im Bahnhofsvorraum auf und ab und feuern mit ihren Maschinenpistolen auf jeden, der sich bewegt. Zwischen Rauchschwaden und Leichen wird die Hilflosigkeit der Opfer mit jeder Sekunde greifbarer. Doch plötzlich richten die Terroristen ihre Waffen in Richtung Eingang. Dort sind vier Polizisten aufgetaucht. Es ist keine Spezialeinheit, es sind vier Streifenpolizisten, die gerade in den Feierabend gehen wollten, als sie die Schüsse hörten. Zwei von ihnen tragen Schutzhelme, die anderen haben sich nur ihre schusssicheren Westen übergestülpt und richten nun ihre normalen Dienstpistolen auf die Angreifer. Es gelingt ihnen, zwei Terroristen außer Gefecht zu setzen, bis Verstärkung in Form von einem guten Dutzend weiterer Polizisten durch einen Nebeneingang kommt und den verbliebenen beiden Attentätern den Weg abschneidet. Ein Schusswechsel, mehrere Treffer, alle Terroristen liegen reglos am Boden. Nach München, Lübeck und Frankfurt ist in der Nacht zu gestern auch der hannoversche Hauptbahnhof nun zum Schauplatz eines Terroranschlags geworden. Natürlich nicht in Wirklichkeit, aber in einer großangelegten Simulation von Bundes- und Landespolizei.
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„Spätestens seit 2015 wissen wir, dass es jederzeit auch in Deutschland Angriffe geben kann, bei denen die Täter darauf aus sind, möglichst viele Menschen zu töten und zu verletzen“, sagt Peter Jördening, Leiter der Bundespolizeiinspektion Hannover-Hauptbahnhof. „Bei solchen Angriffen geht es um Minuten, da ist keine Zeit, um auf Spezialkräfte zu warten.“ Und so richtet sich diese Übung auch in erster Linie an die Polizisten der Bundes- und Landespolizei, die täglich auf der Straße ihren Dienst versehen und jederzeit Zeuge eines Terroranschlags werden können. Damit ist die Übung ein Beispiel dafür, wie sehr sich die Philosophie der Polizeiaus- und Weiterbildung in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat. Schon in den Siebzigern – nach dem Olympia-Attentat in München 1972 – setzte sich bei Polizei und Politik die Erkenntnis durch, dass die Polizei eben nicht auf alles Denkbare vorbereitet ist. Doch es sollte noch mehr als zwanzig Jahre dauern, bis Übungseinheiten wie Selbstverteidigung, Schießen und Zugriff nicht mehr einzeln und nach Schema F gelehrt wurden, sondern auch in einem Kontext trainiert, der mit realen Situationen vergleichbar ist.
Mittlerweile trainieren Niedersachsens Polizisten überwiegend in Szenarien, die ihnen auch im Alltag begegnen. Das beginnt bei einem Streit mit dem Nachbarn, geht über einen Einsatz, in dessen Verlauf plötzlich jemand ein Messer zieht, und endet bei außergewöhnlichen Situationen wie einem Amoklauf oder einem Anschlag. Damit die Simulation möglichst real erscheint, kommen Geräusche und Übungsmunition zum Einsatz, etwa eine Art Platzpatronen oder Farbmunition. Diese Munition ist zudem so beschaffen, dass der Beamte diese auch durch die Uniform spürt, wenn er getroffen wurde. Systemisches Einsatztraining lautet der Fachbegriff für diese Art des Trainings. Ziel ist es, den Beamten nicht nur die notwendigen Fähigkeiten, sondern auch ein Gefühl für die Situation zu vermitteln. „Jeder einzelne Beamte soll verinnerlicht haben, wie er in einer solchen Situation reagieren muss“, sagt der im Landespolizeipräsidium für die Aus- und Fortbildung zuständige Sachbearbeiter, Jörg Franke.
Selbstverständlich ist das nicht. Denn die Szenarien zur Terrorabwehr basieren auf den Übungen zu Amokläufen und Geiselnahmen. Und vor gut zehn Jahren war es noch üblich, das Gebäude mit den Tätern zuerst zu umstellen, auf Spezialkräfte zu warten und eine Kommunikationshierarchie aufzubauen, bevor man gegen die Angreifer vorging. Das ist längst anders. „Wer zuerst am Tatort ankommt, hat den Hut auf, denn er hat die meisten Informationen“, erklärt ein Bundespolizist, der die Übung im Hauptbahnhof begleitet. „Wie man in dem Szenario sieht, ist einfach keine Zeit, um erst mal Vorgesetzte zu verständigen und auf Anweisungen zu warten. Denn da s ermöglicht den Attentätern nur, weitere Menschen zu töten.“ Und so müssen einfache Streifenpolizisten lernen, die unübersichtliche Situation einzuschätzen, Wichtiges (die Attentäter kampfunfähig zu machen) von weniger Wichtigem (die Verletzten versorgen) zu trennen und die Verstärkung zu koordinieren, während sie gegen die Täter vorgehen.
Mindestens 40 Stunden Training innerhalb von zwei Jahren
Großangelegte Übungen wie die im Hauptbahnhof mit verschiedenen Akteuren wie Feuerwehr und Rettungsdienst kommen nicht häufig vor, das Thema Terror ist jedoch fester Bestandteil des regelmäßigen systemischen Einsatztrainings. Jeder Streifenbeamte muss innerhalb von zwei Jahren mindestens 40 Stunden Training absolvieren, das systemische Einsatztraining stellt den größten Teil dar. In allen Polizeidirektionen gibt es mehrere Standorte, an denen Situationen geübt werden, in die Polizisten kommen. Doch viele der Liegenschaften, wie etwa die Gebäude am Grünen Ring in Braunschweig, sind in schlechtem Zustand und die rund 8 Millionen Euro jährlich aus dem Landeshaushalt haben nicht ausgereicht, um den Sanierungsstau abzubauen. Deshalb wurde die Summe im vergangenen und im laufenden Jahr schon auf 15 Millionen Euro erhöht.
Allerdings plant das Innenministerium, das Problem der Trainingsstätten langfristig anders zu lösen. Erst vor zwei Monaten hat das Land ein leerstehendes Fabrikgelände in Oldenburg gekauft und lässt dort nun die fünf Industriehallen zu einem Trainingszentrum umbauen. Dort sollen künftig die Studenten des Akademiestandorts Oldenburg, die dort zukünftig stationierte Teileinheit des Spezialeinsatzkommandos (SEK), die Einheiten der Bereitschaftspolizei und die Streifendienstbeamten aus dem Raum Oldenburg trainieren. Aus Sicht des Innenministeriums bietet ein Trainingszentrum mehrere Vorteile vor einzelnen Standorten. Der wichtigste Faktor sind die Besitzrechte. Denn einige Übungsgebäude sind derzeit nur angemietet, nicht überall darf mit Farbmunition geschossen werden, und die sanitären Anlagen sind, wenn überhaupt vorhanden, teilweise in schlechtem Zustand. „In Oldenburg kann sich die Polizei künftig optimal zum Beispiel auf die Bewältigung von lebensbedrohlichen Einsatzlagen vorbereiten und wetterunabhängig nach ihren Bedürfnissen trainieren“, so Jörg Franke. Zudem böten die Hallen auch den Platz, ganze Häuserzeilen aufzubauen, mit Wohnungen und Gaststätten, um sowohl einen Angriff auf offener Straße wie auch einen Familienstreit oder eine Kneipenschlägerei zu simulieren.
Polizei ist zufrieden mit Aus- und Weiterbildung
Auch in anderen Landesteilen sollen Trainingszentren wie dieses entstehen. Konkret sind die Pläne momentan aber nur bei der Polizeidirektion Lüneburg, wie aus der Antwort des Innenministeriums auf eine Anfrage der FDP hervorgeht. Hört man sich in der Polizei um, so ist man zufrieden mit der Entwicklung der Fort- und Weiterbildung von Polizisten in Niedersachsen. Die Ereignisse in den vergangenen Jahren hätten gefruchtet, die Politik habe erkannt, dass es einen höheren Fortbildungsaufwand geben muss. Nun hoffe man, dass auch in den kommenden Jahren genug Geld dafür bereitgestellt werde.
Von Isabel Christian