Viola von Cramon: EU-Agrarpolitik sollte vor Ukraine-Beitritt reformiert werden
Wie geht es eigentlich mit der europäischen Agrarförderung weiter, wenn die Ukraine erst einmal EU-Mitglied ist? Geht dann ein Großteil der Fördergelder direkt in die agrarwirtschaftlich bedeutende Schwarzbodenregion statt beispielsweise nach Deutschland? Diese Frage beschäftigte den Agrarausschuss des niedersächsischen Landtags kürzlich auf einer Reise nach Brüssel, wo die Abgeordneten mit Mitarbeitern der EU-Kommission und Mitgliedern des EU-Parlaments gesprochen haben.
Viola von Cramon, Europaabgeordnete der Grünen aus Göttingen und Vize-Vorsitzende des parlamentarischen EU-Ukraine-Assoziationsausschusses, erläuterte bei diesem Zusammentreffen, weshalb sie die Sorgen mancher Landwirte angesichts eines EU-Beitritts der Ukraine nicht teilt. „Zuerst muss man sagen, dass die Annahme, die Ukraine könnte von heute auf morgen wieder ein Weltmarktführer beim Getreideexport werden, ein bisschen hypothetisch ist“, sagte von Cramon.
Der Krieg hat einen langfristigen Schaden verursacht: „Wir wissen, dass zurzeit die landwirtschaftliche Fläche zu 30 Prozent vermint ist. Die Ukraine ist weltweit das Land mit den meisten Personen- und Panzerminen“, erläuterte sie. Es dauere mindestens 70 Jahre, bis die Minen wieder geräumt seien, so die Einschätzung der Grünen-Politikerin. „Natürlich bleibt auch die Beschädigung der gesamten Agrarinfrastruktur. Vieles von dem, was früher die Ukraine ausmachte – die Silos, die gesamte wissenschaftliche Infrastruktur, die Handelsinfrastruktur – ist zerstört. Auch da braucht es wieder Zeit, vielleicht auch privates Kapital, das da reinfließen muss.“
Ein EU-Beitritt der Ukraine bedeutete zudem nicht, dass das Neumitglied sofort vollen Zugriff auf das Förderinstrumentarium der Gemeinschaft erhalten müsste. „Wir haben ja schon andere große Agrarproduzenten wie Bulgarien und Rumänien aufgenommen. Und da haben wir auch nicht von heute auf morgen Eins-zu-Eins die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) übertragen. Es gab Übergangszeiträume und verringerte Prämien“, erläuterte von Cramon. Außerdem stünde eine Reform der GAP ohnehin ins Haus. Es sei davon auszugehen, dass es die EU in der Zeit bis zum tatsächlichen Beitritt der Ukraine schaffe, die Agrarpolitik so umzustrukturieren, dass der Fokus stärker auf öffentliche Leistung und auf Umweltleistung gelegt werde. „Deswegen wäre ich an dieser Stelle als Landwirtin in Niedersachsen sehr entspannt.“
Die aktuelle Lage in der Ukraine beschreibt von Cramon als „sehr durchwachsen“: „Ich würde sagen: zurzeit ist es eher kritisch.“ Aufgrund des hereinbrechenden Winters gebe es nun weniger Kampfhandlungen. „Aber wir sehen auch, dass insbesondere die Ukraine an ihre personellen Grenzen kommt. Das heißt: Wir müssen dafür sorgen, dass die Ukraine militärisch in die Situation versetzt wird, dass sie überhaupt irgendwann Friedensverhandlungen führen kann.“
„Die Ukrainer müssen das Gefühl haben, dass dieser Kampf für die europäischen Werte auch belohnt, honoriert und anerkannt wird. Deshalb ist es wichtig auch im Krieg diese Beitrittsverhandlungen zur eröffnen.“
Sorgen bereitet der Grünen-Politikerin, wie es im kommenden dritten Jahr des Angriffskriegs weitergehen könnte. „Wir müssen dafür sorgen, dass Putin nicht nach seinen sogenannten Wahlen am 17. März in eine neue Mobilisierungsphase geht, und dann tatsächlich noch mal im großen Stil von drei Seiten – Norden, Osten und Süden – einen Angriff plant. Das wäre fatal.“ Die Grünen-Politikerin, der es selbst Unbehagen bereitet, immer wieder nach Waffenlieferungen zu verlangen, betonte noch einmal, was aus ihrer Sicht insgesamt auf dem Spiel stehe: „Es geht Russland nicht ums Territorium, es geht um die Vernichtung des ukrainischen Volkes. Wenn die Ukraine im großen Stil besetzt sein sollte, machen sich noch einmal Millionen Menschen auf den Weg. Ukrainische Soldaten kämpfen da jetzt für uns. Wenn russische Truppen da stehen, bedeutet das eine echte Bedrohung unserer Sicherheit in Gesamteuropa.“
Insbesondere angesichts dieser Ausgangslage sei eine Beitrittsperspektive für die Ukrainer „psychologisch essenziell“. „Sie müssen das Gefühl haben, dass dieser Kampf für die europäischen Werte auch belohnt, honoriert und anerkannt wird. Deshalb ist es wichtig auch im Krieg diese Beitrittsverhandlungen zur eröffnen.“ Wenn diese nun offiziell begonnen werden, wofür sich zuerst Kommission und Parlament und schließlich dann mit einem Trick auch die Mitgliedstaaten ausgesprochen haben, sei jedoch nicht davon auszugehen, dass diese zeitnah abgeschlossen werden können.
„Der Beitritt, der nach optimalen Bedingungen gelaufen ist und in ganz kurzer Zeit stattgefunden hat, war Finnland. Das waren dreieinhalb Jahre.“ Unter Kriegsbedingungen und bei einem Staat von der Größe der Ukraine sowie angesichts von Gesprächen, die unter schwierigen Bedingungen stattfinden, werde der Prozess niemals unter sieben oder zehn Jahren brauchen, prognostizierte von Cramon. „Das wissen die Menschen in der Ukraine auch. Aber überhaupt die Hoffnung zu haben, dass sie irgendwann Mitglied der Europäischen Union sein können, gibt ihnen den Mut, jetzt auch den Kampf gegen die russischen Aggressionen durchzustehen.“
Dieser Artikel erschien am 19.12.2023 in der Ausgabe #222.
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