15. Okt. 2023 · 
Soziales

Vier-Tage-Woche in der Pflege? Eine Sozialstation probiert es einfach mal aus

Carmen Hillbrecht hat ihren Traumjob gefunden. „Hier möchte ich bleiben, bis ich in sechs Jahren in Rente gehe“, sagt die 61-jährige Pflegehelferin mit Nachdruck. Sie liebt das tägliche Autofahren, das Betriebsklima in der Sozialstation in Seelze bei Hannover – und natürlich die Senioren, die sie in deren Zuhause pflegt. „Mal sind sie schlecht drauf, dann muntern wir sie auf, und beim nächsten Mal muntern sie uns auf“, erzählt sie. Und jetzt auch noch acht Tage am Stück frei, jeden Monat: „Wo kriegt man das schon?“

Carmen Hillbrecht und Janett Bauer
planen die Einsätze. | Foto: Anne Beelte-Altwig

So warme Worte über die harte Arbeit in der Pflege lassen sogar ihren Chef Mario Damitz staunen. Denn normalerweise hat es der Geschäftsführer der DRK-Pflegedienste Hannover gGmbH eher mit verzweifelten Angehörigen zu tun, die dringend Unterstützung brauchen und keinen Pflegedienst finden, der noch Kapazitäten frei hat. Mit Insolvenzen bei Wettbewerbern, die nicht mehr rentabel arbeiten können. Mit unbesetzten Stellen, auf die sich nie jemand bewirbt. „Insgesamt haben wir eine Notsituation“, sagt Damitz. „Es muss etwas Neues kommen.“ Diese neue Idee ist: Als erster ambulanter Pflegedienst bundesweit hat eine von den elf Sozialstationen des Trägers in einem Pilotprojekt die Vier-Tage-Woche eingeführt. Alternative Arbeitszeitmodelle in der Pflege werden derzeit auch auf Landesebene diskutiert, wie Sozialminister Andreas Philippi kürzlich im Landtag erklärte. Bei der „Konzertierten Aktion Pflege Niedersachsen“ (Kap.Ni 2) haben sich im vergangenen Sommer alle Interessengruppen zusammengefunden, um die desolate Situation in der Pflege zu verbessern.

„Mein erster Impuls war: Das klappt doch nicht.“

Die Sozialstation Seelze legt schon einmal vor. Bei vollem Lohnausgleich müssen die sozialversicherungspflichtigen Angestellten ein Jahr lang 7,5 Prozent weniger arbeiten. Für die Vollzeit-Beschäftigten bedeutet das, dass ein Arbeitstag jetzt neun statt acht Stunden dauert. Kein großer Unterschied, findet die stellvertretende Pflegedienstleiterin Janett Bauer – und die meisten Kolleginnen arbeiten ohnehin in Teilzeit. Eine Vier-Tage-Woche ergibt sich allerdings nur rein rechnerisch. „Immer freitags frei - das geht in der Pflege nicht“, erklärt Petra Ruppel, Regionalleiterin Nord bei der gGmbH. In der Praxis sind es vier bis fünf zusätzliche freie Tage im Monat, die die Mitarbeiterinnen nach ihren Wünschen aufteilen können, entweder am Stück oder immer mal zwischendurch. Diese Tage jedoch sind verlässlich frei. Kein Mitarbeiter braucht damit zu rechnen, dass er spontan einspringen muss, weil sich eine Kollegin krankgemeldet hat.

„Mein erster Impuls war: Das klappt doch nicht“, sagt Mario Damitz lachend. Doch Petra Ruppel bewies mit einer Dienstplan-Simulation, dass es machbar ist. Langjährige Kunden wurden überzeugt, die Einsatzzeiten zu verlegen, und neue Kunden gewonnen, die damit einverstanden waren, dass die Pflegekraft erst spät bei ihnen klingelt. „Die Kunden haben Verständnis“, berichtet Carmen Hillbrecht. „Erholen Sie sich“, hört die Pflegehelferin oft, wenn sie sich in die freien Tage verabschiedet.

„Mein erster Impuls war: Das klappt nicht“, sagt DRK-Geschäftsführer Mario Damitz. | Foto: Anne Beelte-Altwig

Den Lohnausgleich muss die gGmbH aus eigenen Mitteln stemmen – zusätzlich zu den Gehaltssteigerungen für Pflegekräfte, die schon viele Träger ächzen lassen. Mario Damitz setzt darauf, dass sich die Ausgabe trotzdem refinanzieren lässt. „Das Teuerste für uns ist derzeit die Krankheitsquote“, erklärt er. Und Petra Ruppel ergänzt: „Wenn es uns gelingt, den Krankenstand um 50 Prozent zu reduzieren, dann ist die Vier-Tage-Woche schon gegenfinanziert.“ Eine britische Studie aus einer anderen Branche macht den Führungskräften Mut: Hier habe sich gezeigt, dass die Vier-Tage-Woche im Handwerk den Krankenstand sogar um 66 Prozent verringert hat. Hoffen lässt sie auch, dass die AOK sich an der Evaluation des Pilotprojektes beteiligt. „Die Krankenkassen haben natürlich auch ein Interesse daran, dass die Krankenquote sinkt“, erläutert Damitz. Wenn sich der gewünschte Effekt einstellt, hofft er, dass die Kassen in die Finanzierung der Vier-Tage-Woche mit einsteigen.

„Es wäre schön, wenn wir irgendwann genug Pflegekräfte hätten, so dass man niemanden mehr abwerben müsste.“

Diese Auswirkungen bleiben noch abzuwarten. Doch ein anderer Erfolg war sofort nach Projektstart im Juli 2023 messbar: Es trafen sechs Bewerbungen bei der Sozialstation Seelze ein. Für die Verhältnisse der Branche sei das ein „Kracher“, sagt Mario Damitz. Doch gab es am Projektstandort gar nicht so viele Stellen zu besetzen. Das Unternehmen hat den abgelehnten Bewerbern Jobs an anderen Standorten ohne Vier-Tage-Woche angeboten, doch sie winkten ab. Für sie wäre mehr Freizeit das einzige Argument gewesen, den Arbeitgeber zu wechseln.

In der Branche macht sich die DRK-Pflegedienste Hannover gGmbH mit dem Pilotprojekt nicht nur Freunde. Denn kurzfristig verschafft sie sich damit einen Wettbewerbsvorteil im Rennen um Fachkräfte. „Sie kannibalisieren den Markt“, muss sich Mario Damitz gelegentlich anhören. „Es wäre schön, wenn wir irgendwann genug Pflegekräfte hätten, so dass man niemanden mehr abwerben müsste“, überlegt Petra Ruppel. Seit die Kassen nur noch Pflegeeinrichtungen finanzieren, die nach Tarif bezahlen, sind die Löhne in der Branche spürbar gestiegen – doch die Zahl der Auszubildenden sinkt weiter. Dies zeigt, meint Ruppel, dass Geld nicht der entscheidende Faktor ist, um den Nachwuchs zu überzeugen.

Ein eingespieltes Team: Petra Ruppel, Carmen Hillbrecht und Janett Bauer. | Foto: Anne Beelte-Altwig

Ob mehr Freizeit und Planbarkeit den Job attraktiver machen können, soll das Pilotprojekt bis Juni 2024 zeigen. Der Druck ist groß: „Wenn man so etwas macht, darf man nicht scheitern“, sagt Petra Ruppel. Den Mitarbeitern wäre schwer zu vermitteln, wenn sie wieder zur regulären Arbeitszeit zurückkehren müssten. Auch wird sich dann die Frage stellen, ob sich das Modell auf jede Einrichtung übertragen lässt. Die Sozialstation Seelze wurde als Piloteinrichtung ausgewählt, weil hier schon vieles gut lief: Wenige Stellen waren unbesetzt und das Leitungsteam arbeitete erfolgreich zusammen, so dass die Kollegen einander reibungslos vertreten können. Diese günstigen Voraussetzungen müssten woanders erst einmal geschaffen werden.

Dieser Artikel erschien am 16.10.2023 in Ausgabe #178.
Anne Beelte-Altwig
AutorinAnne Beelte-Altwig

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