Da ist selbst Ministerpräsident Stephan Weil beeindruckt: 448 Seiten dick ist der Planfeststellungsbeschluss, den er auf der Stromleitungs-Baustelle in Dollern (Kreis Stade) an Tennet-Vorstand Tim Meyerjürgens überreichen muss. „Da fragt man sich instinktiv: Muss das eigentlich so aufwendig sein?“, meint der SPD-Politiker und untermauert sogleich seine Forderung nach einem Bürokratieabbau bei Infrastrukturprojekten.

Dabei bekommt Weil an dieser Stelle nur die Spitze des Eisberges zu sehen. Mehr als 20 gut gefüllte Leitz-Ordner hat Tennet-Teilprojektleiterin Melanie Mader vor knapp einem Jahr bei der Planfeststellungsbehörde eingereicht, um allein den sechsten von sieben Teilabschnitten für die Stromleitung zwischen Stade und Landesbergen (Kreis Nienburg/Weser) auf den Weg zu bringen. Wenn jetzt niemand Klage einlegt, kann auch zwischen Hoya und Steyerberg mit dem Bau von Strommasten begonnen werden.

Was nach einer eher provinziellen Angelegenheit klingt, ist tatsächlich ein Projekt von großer nationaler Bedeutung. Die Stromtrasse von der Elbe nach Nordrhein-Westfalen stellt den zweitschlimmsten Flaschenhals im niedersächsischen Stromnetz dar. Getoppt wird das nur noch von der Leitung von Dörpen nach Hanekenfähr im Emsland, die so verstopft ist wie keine andere Trasse in Deutschland.
2021 waren allein diese beiden Engpässe dafür verantwortlich, dass Strom in Höhe von fast 1000 Gigawattstunden abgeregelt werden musste – zum überwiegenden Teil handelte es sich dabei um Windkraft. Um die Netzstabilität zu gewährleisten, wurden stattdessen anderswo Steinkohle und Erdgas verbrannt. „Strombedingter Redispatch“ nennt man diese Netzstabilisierungsmaßnahme, die seit einigen Jahren immer häufiger angewendet werden muss. Das ist nicht nur aus Klimaschutzgründen ein Fiasko, sondern tut auch finanziell richtig weh, denn die Kraftwerksbetreiber werden für den nicht abgenommenen Strom entschädigt.

Für den Redispatch musste die Stromwirtschaft im vergangenen Jahr eine Rekordsumme von 1,9 Milliarden Euro aufwenden, 2021 waren es noch 600 Millionen Euro – und das war schon ein Topwert im Vergleich zu den Vorjahren. „Der Anstieg der Kosten um gut 221 Prozent ist dabei einerseits auf den mengenmäßigen Anstieg der Maßnahmen sowie andererseits hauptsächlich auf die stark gestiegenen Brennstoffpreise (Kohle, Gas und Öl) zurückzuführen“, erläutert die Bundesnetzagentur in ihrem aktuellen Bericht zum Netzengpassmanagement. Wie in den Vorjahren gilt dabei: Die Kosten für die Redispatch-Maßnahmen zahlen am Ende komplett die Stromkunden über die Netznutzungsentgelte.
Die verstopften Stromnetze führen vor allem zwischen Harz und Nordseeküste zu Kraftwerksreduzierungen. Mit 5500 Gigawattstunden (GWh) ist Niedersachsen im Ländervergleich klarer Spitzenreiter bei den Absenkungsmaßnahmen. Auf Platz zwei und drei folgen erst mit weitem Abstand Brandenburg (2115 GWh) und Schleswig-Holstein (1441 GWh). Wenn es zum Redispatch kommt, werden zwar oft auch Braun- und Steinkohlekraftwerke abgeschaltet, zumindest in Niedersachsen handelt es sich aber überwiegend um Kraftwerke mit erneuerbaren Energieträgern (EE-Anlagen).
„Im Jahr 2022 betrug die insgesamt in Niedersachsen im Rahmen des Netzengpassmanagements abgeregelte EE-Strommenge rund 4204 GWh“, berichtete jüngst das niedersächsische Umweltministerium auf eine Anfrage des Landtagsabgeordneten André Hüttemeyer (CDU) zur Abregelung von Biogasanlagen. Auch diese sind laut Ministerium vom Redispatch betroffen, aber nur „weit unterdurchschnittlich“. „Der Anteil der Biomasseanlagen (einschließlich Biogas) an den gesamten Abregelungen von EE-Anlagen in Niedersachsen betrug somit rund 2,1 Prozent (rund 90 GWh)“, teilt das Ministerium mit.

Die von der Bundesnetzagentur erhobenen Zahlen zum Netzpassmanagement zeigen auch, dass sich die Menge der Abregelungen von EE-Anlagen in Niedersachsen innerhalb von nur zwei Jahren verdoppelt hat (2020: 2095 GWh). In Hannover beobachtet man diese Entwicklung „mit großer Sorge“, denn so werde das Potenzial der regenerativen Kraftwerke zur Reduktion des deutschen CO2-Ausstoßes nicht optimal ausgeschöpft. „Die Landesregierung setzt sich entsprechend für einen zügigen Netzausbau zur zukünftigen Senkung von Redispatchmaßnahmen ein“, heißt es. Dabei zählt die niedersächsische Landesregierung auf die neue Task-Force zur Energiewende und dort vor allem auf die Projektgruppe „Netzausbau“. Man erhofft sich aus der direkten Zusammenarbeit mit den Übertragungsnetzbetreibern konkrete Verbesserungsvorschläge.
Die Marschrichtung ist klar: Die Behörden müssen bei der Genehmigung mehr Tempo machen. „Die Stromleitung von Dollern nach Langenbergen ist für uns ein gutes Beispiel um zu zeigen, dass man beschleunigen kann“, sagt Tennet-Chef Meyerjürgens. „Das war ein echt schnelles Verfahren“, bestätigt Projektplanerin Mader. Die Niedersächsische Landesbehörde für Straßenbau und Verkehr (NLStBV), die hierzulande für die Planfeststellungsverfahren von Hochspannungsleitungen zuständig ist, habe „mit dem nötigen Zug und sehr großem Einsatz“ gearbeitet, lobt die 35-jährige Volljuristin. Die enge Abstimmung mit den Behörden sowie die frühzeitige Information und Beteiligung der Flächeneigentümer habe die mehr als 40-köpfige Projektplanungsabteilung von Tennet allerdings schwer auf Trab gehalten. „Das kostet uns viel Aufwand. Aber wenn es dadurch am Ende schneller wird, hilft das uns allen“, sagt Programmdirektor Bernd Stark, der beim Übertragungsnetzbetreiber für Großprojekte im Nordosten Deutschlands verantwortlich ist.

Meyerjürgens sieht allerdings noch keinen Grund zum Jubeln. „Der Netzausbau ist zu langsam, aufgrund von langer Planungs- und Genehmigungsverfahren in Deutschland. Und auf der anderen Seite überholt uns die Energiewende. Alles, was wir an Netzausbau machen, wird gleich wieder aufgefressen durch den höheren Strombedarf“, kritisiert der Chief Operation Officer (COO).
Dass der Übertragungsnetzbetreiber durchaus gewillt ist, das Ausbautempo deutlich anzuziehen, machte Tennet jetzt in Bayern deutlich: Damit der Bau der unterirdischen Stromautobahn Südostlink endlich vorankommt, hat das Unternehmen den vorzeitigen Baubeginn nach Paragraf 44 des Energiewirtschaftsgesetzes noch vor dem Planfeststellungsbeschluss beantragt. Ein solcher Antrag ist dann möglich, wenn ein besonderes öffentliches Interesse vorherrscht und die beantragten Baumaßnahmen keine irreversiblen Schäden verursachen können. Im konkreten Fall geht es um Spülbohrungen, die Verlegung eines Drehstrom-Kabels sowie um Baumfällungen.
Der erste Teil von Südostlink, der von Wolmirstedt bei Magdeburg über 540 Kilometer bis nach Isar bei Landshut verlaufen wird, soll 2027 in Betrieb gehen. Das ist nur ein Jahr nach der geplanten Fertigstellung der mit insgesamt 155 Kilometern viel kürzeren 380-kV-Hochspannungsleitung von Stade nach Landesbergen. Das macht deutlich: Zeitraubend sind nicht die Bauarbeiten, sondern die Genehmigungsverfahren. Die Montage der 60 bis 100 Tonnen schweren Strommasten ist sogar nur noch eine Sache von wenigen Tagen, wenn erst einmal das 20 Meter tiefe Fundament ausgehärtet ist. „Das ist wie in der Serienproduktion. An manchen Tagen können wir bis zu drei Masten aufstellen“, erläutert Tennet-Konstruktionsleiter Maik Fritsch und vergleicht die modulare Bauweise mit den Baukästen von Fischertechnik.

Die 92 Masten für den 37 Kilometer langen Abschnitt 2 zwischen Dollern und Elsdorf, der aktuell im Bau ist, werden zudem von zwei Baudienstleistern parallel gesetzt. „Da sind sicherlich 100 bis 150 Leute gleichzeitig am Werk“, meint Fritsch. Das hohe Tempo auf der Baustelle nimmt auch der Ministerpräsident wahr und fühlt sich in seiner Einschätzung bestätigt, dass es beim Netzausbau nicht bei der Ausführung hapert. „Es ist der Planungssektor, der enorm viel Zeit kostet“, sagt Weil.

Ob seine Regierung die Kraft und den ernsten Willen hat, daran etwas zu ändern, bleibt abzuwarten. Bei der ersten Zwischenbilanz legte die Task-Force zur Energiewende zwar mehrere Absichtserklärungen vor, zeigte aber wenig konkrete Ergebnisse. Da könnte noch viel Arbeit auf die Landesregierung zukommen.