Vertrauensfrage zu spät? Opposition zweifelt den Willen der SPD zu Neuwahlen an
Am Morgen nach dem historischen Tag, der nicht nur den Wahlsieg von Donald Trump in den USA brachte, wirkt der Landtag ganz anders als sonst. Die Abgeordneten stehen an diesem zweiten Tag der Plenarwoche in kleinen Grüppchen zusammen, sie reden nachdenklich und sind teilweise in Gespräche vertieft. Für Außenstehende sind solche Szenen immer ein Signal: Es muss in der Politik etwas Besonderes, etwas Außergewöhnliches passiert sein. In der Tat ist es eine Art Doppel-Schock, der viele Politiker getroffen hat: Zum einen muss verkraftet werden, dass der nächste US-Präsident ein unberechenbarer, zum Protektionismus neigender Charakterkopf ist. Zum anderen beschert das vorzeitige Ampel-Aus allen Parteien vorgezogene Neuwahlen zum Bundestag. Über Nacht befindet sich Deutschland damit im Vorwahlkampf. Man steht unter größerer Beobachtung.
Es ist die AfD, die dann das Thema zuerst anspricht. Der Haushaltspolitiker Peer Lilienthal beantragt zu Beginn der Sitzung für seine Fraktion, die Tagesordnung zu erweitern. „Wir müssen unbedingt darüber reden, was auf der Bundesebene passiert ist. Das hat doch massive Auswirkungen auf Niedersachsen“, betont Lilienthal und wendet sich direkt an Stephan Weil: „Herr Ministerpräsident, sorgen Sie für Klarheit!“ Dann aber geschieht etwas Ungewöhnliches: Alle übrigen Fraktionen, SPD, CDU und Grüne, gehen nicht auf den AfD-Antrag ein, ihre Vertreter senken vielmehr das Haupt. Durch Schweigen sorgen sie dafür, dass die von der AfD beantragte Debatte eben nicht auf die Tagesordnung gesetzt wird. Dies zeigt eine ungewöhnliche Anspannung. Zu viel ist auf der Berliner Bühne derzeit in Bewegung, als dass sich die Landtagsabgeordneten auf eine ungezwungene Debatte einlassen wollen. Vielleicht auch, weil viele noch ratlos sind, wie es weitergehen soll.
Aber der Bruch der Berliner Ampel-Regierung lässt sich nun mal nicht ausklammern, das Thema überlagert alles andere im Landtag. In den folgenden Stunden trudeln immer mehr Einladungen zu Politiker-Statements ein. Die Fraktionschefs und der Ministerpräsident stellen sich – und das geschieht gegenüber einem spürbar größer gewordenen Aufgebot an Journalisten, Kamera- und Hörfunkteams. Dabei schält sich einiges heraus:
- Die SPD schont auf einmal die CDU: Nach der Kür von Friedrich Merz zum Kanzlerkandidaten der CDU/CSU hatte es viele niedersächsische Politiker von SPD und Grünen gegeben, die auf die „Merz-CDU“ schimpften. Das galt noch am vergangenen Wochenende für die Vize-Ministerpräsidentin Julia Hamburg, die beim Grünen-Landesparteitag gegen die Migrationspolitik von Merz gewettert hatte. Inzwischen aber ist jemand anderes zum Prügelknaben auserkoren. Hauptangriffspunkt der Stellungnahmen von SPD- und Grünen-Politikern ist nun auf einmal der FDP-Vorsitzende Christian Lindner. Das mag auch an der Hoffnung von Rot-Grün liegen, die CDU/CSU in den nächsten Wochen noch für die Unterstützung bestimmter Gesetzesvorhaben im Bundestag gewinnen zu können. Da will man Merz nicht verärgern. Bei Lindner hingegen, den bisherigen Partner, weicht jegliche Zurückhaltung. Ministerpräsident Weil sagt: „Eine Kooperation mit Herrn Lindner war nicht mehr möglich.“ Grünen-Fraktionschefin Anne Kura betont: „Lindner hat auf Blockade gesetzt.“ Was die CDU angeht, meint Weil nur: „Die Union hat jetzt Gelegenheit, Verantwortungsbewusstsein zu zeigen.“
„Es darf keine Zeit vergehen, wir haben viele Reformen auf der Liste.“
- Der Zeitpunkt der Vertrauensfrage ist ein Thema: CDU-Landtagsfraktionschef Sebastian Lechner hebt gegenüber den Journalisten hervor, dass er vom Kanzler „die Vertrauensfrage im Bundestag noch in dieser Woche oder spätestens in der nächsten“ erwartet. Wenn Scholz es – wie angekündigt – erst im Januar tun wolle, gehe viel zu viel Zeit verloren und die Neuwahlen könnten dann erst Mitte oder Ende März stattfinden. Erst im Sommer sei dann mit der Regierungsbildung zu rechnen. „Wir wollen aber schnelle Neuwahlen“, betont Lechner. Bei Wahlen Mitte Januar stehe die neue Regierung womöglich schon im März. „Es darf keine Zeit vergehen, wir haben viele Reformen auf der Liste.“ Als Stephan Weil von einem Kamerateam nach dem Zeitpunkt der Vertrauensfrage gefragt wird, sagt er erst einmal: „Das ist die Entscheidung des Kanzlers, da müssen sie ihn fragen.“ Er als Ministerpräsident könne Scholz dabei nicht beeinflussen. Dann zählt Weil einige Sekunden später aber ein paar Argumente auf, die für den späteren Termin sprechen – die Parteien bräuchten Zeit für die Wahlkampfvorbereitung, außerdem müsse man „erst in der Sache vorankommen und dann wählen“. Damit will er offenbar sagen, dass die rot-grüne Minderheitsregierung noch um Mehrheiten für bestimmte Gesetze ringen wolle. Der AfD-Fraktionsvorsitzende Klaus Wichmann kommentiert zum Thema Vertrauensfrage: „Der gescheiterte Noch-Kanzler klebt am Amt und mutet Deutschland eine monatelange Hängepartie zu.“
- Das Haushaltsproblem: Wenn der Bundeshaushalt 2025 wegen fehlender Mehrheiten nicht wie geplant im Bundestag beschlossen werden kann, könnte das auch Auswirkungen auf das Land Niedersachsen haben. Denkbar wäre, dass anvisierte Bundeszuschüsse nicht fließen können. Ob das tatsächlich passiert, ist aber fraglich. Das Regelwerk der „vorläufigen Haushaltsführung“, das in diesem Fall von Januar 2025 an in Kraft treten würde, sieht eine wichtige Verantwortung beim Bundesfinanzminister – also beim bisherigen Finanz-Staatssekretär Jörg Kukies, der dieses Amt von Lindner übernehmen soll. Er kann festlegen, dass die im Regierungsentwurf vorgesehenen Ausgaben fließen können, allerdings vermutlich mit prozentualen Abstrichen. CDU-Fraktionschef Lechner sagt, seine Fraktion wolle sich in der kommenden Woche erkundigen, wie die Auswirkungen möglicher Kürzungen von Bundeszuschüssen auf Niedersachsen sein werden.
- Das Kanzlerkandidaten-Thema: Bemerkenswert ist die Art und Weise, in der Ministerpräsident Stephan Weil aktuell über den Kanzler redet. Jahrelang hatten beide Sozialdemokraten in vielen Themen, etwa dem Industriestrompreis, über Kreuz gelegen. Nun fällt auf, wie sehr Scholz in der Energie- und Wirtschaftspolitik auf Weils Linie eingeschwenkt ist. Weil dankt das mit Treuebekenntnissen. Ungefragt spricht er gegenüber Journalisten von seiner „Hochachtung“ vor dem Kanzler und davon, dass mit dem Scholz-Auftritt nach der Lindner-Entlassung ein Ruck durch die niedersächsische SPD gegangen sei. Nun sei man auf einmal voller Energie vor dem kommenden Wahlkampf. Danach hebt Weil noch „die große Disziplin“ des Kanzlers hervor. Auf die Nachfrage, ob er auch für Scholz als SPD-Kanzlerkandidat plädiert, antwortet Weil mit einem klaren „Ja“. Damit scheint sich die öffentliche und auch SPD-intern geführte Debatte darüber, ob nicht besser Boris Pistorius neuer SPD-Spitzenkandidat werden sollte, erledigt zu haben.
Dieser Artikel erschien am 08.11.2024 in der Ausgabe #197.
Karrieren, Krisen & Kontroversen
Meilensteine der niedersächsischen Landespolitik
Jetzt vorbestellen