17. Mai 2020 · 
Inneres

Verfassungsschutz-Chef zu Corona-Demos: „Eine gefährliche Mischung“

Ist die neue Protestbewegung, die sich gegen die Einschränkungen von Freiheitsrechten in der Corona-Krise wendet, ein Ausdruck einer neuen Bürgerbewegung – oder stecken politische Extremisten dahinter? Es ist gar nicht so einfach, sich diesem Phänomen zu nähern, meint Niedersachsens Verfassungsschutzpräsident Bernhard Witthaut. Im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick beschreibt er, wie seine Behörde die Situation einschätzt und welche Gefahren aus seiner Sicht mit den Protesten verbunden sind. [caption id="attachment_50414" align="alignnone" width="780"] "Wer auf Demonstrationen seinen Verstand einschaltet, wird rasch erkennen, an welcher Stelle Beifall vielleicht nicht mehr angesagt ist, sondern Abkehr", sagt Verfassungsschutzpräsident Bernhard Witthaut. - Foto: Verfassungsschutz Niedersachsen; kw[/caption] Rundblick: Herr Witthaut, auch in Hannover sind die Gegner der Corona-Politik schon ein paarmal auf die Straße gezogen. Wie schätzen Sie das ein, sind das nun überwiegend Linksradikale, Rechtsradikale, radikale Impfgegner oder Esoteriker? Witthaut: Sicherlich von allem ein bisschen. Das ist ja das Besondere an dieser neuen Form des Protestes, die wir derzeit an vielen Orten in Deutschland erleben, in Berlin und Stuttgart übrigens noch stärker als hier in Norddeutschland: Da kommen sehr viele Menschen zusammen, die ihr Unbehagen ausdrücken wollen. Sie leiden unter Einschränkungen der Freiheiten, halten die Festlegungen der Politiker für schlecht oder gar nicht begründet – oder sie haben schlicht Angst. Das ist ein Sammelsurium verschiedener Motive und Haltungen. Längst nicht alle haben radikale beziehungsweise extremistische Ansichten, ganz viele verspüren gar keine grundsätzliche Abneigung gegenüber dem politischen System.
Wir bemerken, dass insbesondere Extremisten von links und rechts versuchen, die Regie solcher Proteste zu übernehmen und mit neuen Bündnissen ihre politische Basis zu verbreitern.
Rundblick: Also sind das berechtigte Proteste? Witthaut: Was viele Teilnehmer angeht: ja. Aber wir bemerken eben auch, dass insbesondere Extremisten von links und rechts versuchen, die Regie solcher Proteste zu übernehmen und mit neuen Bündnissen ihre politische Basis zu verbreitern. Das spüren wir etwa ganz deutlich bei den Aktivisten, die früher wiederholt bei rechtsextremen Kundgebungen aufgetreten sind und jetzt hier erscheinen. Was mich wundert, sind die fehlenden Grenzziehungen mancher Leute. Wenn der Kurzzeit-Ministerpräsident Thomas Kemmerich von der Thüringer FDP in Gera gemeinsammit Rechtspopulisten demonstriert, sind Barrieren überschritten, die er hätte unbedingt einhalten müssen. Er hat sich entschuldigt – aber er hat es leider vorher nicht gemerkt. [caption id="attachment_50456" align="alignnone" width="780"] Verfassungsschutz-Chef Bernhard Witthaut beim Besuch der Rundblick-Redaktion - Foto: SG[/caption] Rundblick: Was macht die Situation gegenwärtig so gefährlich? Ist es die allgemein gereizte Stimmung in der Gesellschaft? Witthaut: Viele Menschen sind verunsichert. Sie können schlecht damit umgehen, dass niemand genau weiß, wie es weitergehen wird. Die Zahlen der Infektionen sind niedrig, das Gesundheitssystem ist gut gerüstet – das stimmt. Aber wann das gesellschaftliche Leben wieder „normal“ wird und wer die enormen Kosten, die der Staat übernimmt, später zu zahlen hat, sind Fragen, die viele Leute belasten. Hinzu kommen Ängste um den Arbeitsplatz und die Zukunft. Leider sind viele Menschen in solchen Situationen anfälliger für Verschwörungstheorien als sonst.
Wer auf Demonstrationen seinen Verstand einschaltet, wird rasch erkennen, an welcher Stelle Beifall vielleicht nicht mehr angesagt ist, sondern Abkehr.
Rundblick: Wer einmal auf solchen Abwegen ist, kann nur noch schwer davon wieder lassen. Wie ist der richtige Umgang mit solchen Theorien aus Ihrer Sicht? Witthaut: Zunächst mal muss man all denen, die zu solchen Demonstrationen gehen und nicht festgelegt sind, zurufen: Seid wachsam! Achtet darauf, wie die Redner argumentieren! Wenn sie nur die Emotionen ansprechen und die politischen Entscheidungsträger verächtlich machen, dann ist Vorsicht angesagt – denn dann ist klar, dass man sich von der Ebene der nüchternen Argumentation entfernt. Wo das passiert, sind die Verschwörungstheorien oft nicht weit. Wer auf Demonstrationen seinen Verstand einschaltet, wird rasch erkennen, an welcher Stelle Beifall vielleicht nicht mehr angesagt ist, sondern Abkehr. Der nächste Punkt ist die öffentliche Aufmerksamkeit: Die Medien haben eine große Verantwortung, aber auch die Politiker und alle Personen, die im öffentlichen Leben stehen. Viele neigen dazu, den Verschwörungstheoretikern breiten Raum zu geben, sogar Verständnis für ihre Thesen zu entwickeln. Aber man muss ja nicht jeden Tag über diese Gruppen berichten, denn das gäbe ihnen eine Aufmerksamkeit, die in keinem Verhältnis steht zu ihrer wahren Bedeutung. https://www.youtube.com/watch?v=w2MS0KEO3HA Rundblick: Für viele Anhänger sind diese Bewegungen riesengroß… Witthaut: Ja, weil das Internet wie ein enormes Vergrößerungsglas wirkt: Wer sich in Kreisen bewegt, die ähnlich denken und ticken, fühlt sich bald mächtig und aufgerufen zum Widerstand. Das hat dann aber mit der Realität nichts zu tun. Diese Entwicklung ist in Krisenzeiten wie diesen ungleich gefährlicher als sonst. Daher ziehe ich eine Lehre aus der gegenwärtigen Lage: Es kommt auf Qualitätsmedien an, Zeitungen, Online-Dienste, Fernseh- und Rundfunksendungen. All jene, die sachlich, abgewogen und gut recherchiert informieren und bewerten, sind enorm wichtig als Orientierungshilfe in einer Zeit, in der Orientierung an sich schwer fällt. Sie können auch vermitteln, wenn Wissenschaftler und Politiker an irgendeiner Stelle auch mal einräumen müssen, dass sie noch keine Antwort auf die aktuellen Probleme haben – und deshalb, um das Wort noch einmal zu zitieren, „auf Sicht fahren“ müssen. Rundblick: Gibt es denn derzeit den „klassischen“ Extremismus noch, also die Rechtsextremisten und die Linksradikalen und auch die Islamisten? Witthaut: Ja, sicher. Rundblick: Es hätte ja sein können, dass diese Gruppen absorbiert werden von der Allgegenwärtigkeit des Corona-Themas… Witthaut: Sie alle sind beeinflusst davon. In den ersten Wochen nach Ausbruch der Krise haben wir festgestellt, dass sich die Aktivisten zurückgezogen und erst einmal in aller Stille überlegt haben, wie es weitergeht. Das ist eine menschliche Reaktion. Inzwischen versuchen sie mit all ihren Möglichkeiten, die mit Corona verbundenen Ängste und Unsicherheiten für ihre Zwecke zu nutzen.
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #093.
Niklas Kleinwächter
AutorNiklas Kleinwächter

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