
Wir bemerken, dass insbesondere Extremisten von links und rechts versuchen, die Regie solcher Proteste zu übernehmen und mit neuen Bündnissen ihre politische Basis zu verbreitern.
Rundblick: Also sind das berechtigte Proteste?
Witthaut: Was viele Teilnehmer angeht: ja. Aber wir bemerken eben auch, dass insbesondere Extremisten von links und rechts versuchen, die Regie solcher Proteste zu übernehmen und mit neuen Bündnissen ihre politische Basis zu verbreitern. Das spüren wir etwa ganz deutlich bei den Aktivisten, die früher wiederholt bei rechtsextremen Kundgebungen aufgetreten sind und jetzt hier erscheinen. Was mich wundert, sind die fehlenden Grenzziehungen mancher Leute. Wenn der Kurzzeit-Ministerpräsident Thomas Kemmerich von der Thüringer FDP in Gera gemeinsammit Rechtspopulisten demonstriert, sind Barrieren überschritten, die er hätte unbedingt einhalten müssen. Er hat sich entschuldigt – aber er hat es leider vorher nicht gemerkt.
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Wer auf Demonstrationen seinen Verstand einschaltet, wird rasch erkennen, an welcher Stelle Beifall vielleicht nicht mehr angesagt ist, sondern Abkehr.
Rundblick: Wer einmal auf solchen Abwegen ist, kann nur noch schwer davon wieder lassen. Wie ist der richtige Umgang mit solchen Theorien aus Ihrer Sicht?
Witthaut: Zunächst mal muss man all denen, die zu solchen Demonstrationen gehen und nicht festgelegt sind, zurufen: Seid wachsam! Achtet darauf, wie die Redner argumentieren! Wenn sie nur die Emotionen ansprechen und die politischen Entscheidungsträger verächtlich machen, dann ist Vorsicht angesagt – denn dann ist klar, dass man sich von der Ebene der nüchternen Argumentation entfernt. Wo das passiert, sind die Verschwörungstheorien oft nicht weit. Wer auf Demonstrationen seinen Verstand einschaltet, wird rasch erkennen, an welcher Stelle Beifall vielleicht nicht mehr angesagt ist, sondern Abkehr. Der nächste Punkt ist die öffentliche Aufmerksamkeit: Die Medien haben eine große Verantwortung, aber auch die Politiker und alle Personen, die im öffentlichen Leben stehen. Viele neigen dazu, den Verschwörungstheoretikern breiten Raum zu geben, sogar Verständnis für ihre Thesen zu entwickeln. Aber man muss ja nicht jeden Tag über diese Gruppen berichten, denn das gäbe ihnen eine Aufmerksamkeit, die in keinem Verhältnis steht zu ihrer wahren Bedeutung.
https://www.youtube.com/watch?v=w2MS0KEO3HA
Rundblick: Für viele Anhänger sind diese Bewegungen riesengroß…
Witthaut: Ja, weil das Internet wie ein enormes Vergrößerungsglas wirkt: Wer sich in Kreisen bewegt, die ähnlich denken und ticken, fühlt sich bald mächtig und aufgerufen zum Widerstand. Das hat dann aber mit der Realität nichts zu tun. Diese Entwicklung ist in Krisenzeiten wie diesen ungleich gefährlicher als sonst. Daher ziehe ich eine Lehre aus der gegenwärtigen Lage: Es kommt auf Qualitätsmedien an, Zeitungen, Online-Dienste, Fernseh- und Rundfunksendungen. All jene, die sachlich, abgewogen und gut recherchiert informieren und bewerten, sind enorm wichtig als Orientierungshilfe in einer Zeit, in der Orientierung an sich schwer fällt. Sie können auch vermitteln, wenn Wissenschaftler und Politiker an irgendeiner Stelle auch mal einräumen müssen, dass sie noch keine Antwort auf die aktuellen Probleme haben – und deshalb, um das Wort noch einmal zu zitieren, „auf Sicht fahren“ müssen.
Rundblick: Gibt es denn derzeit den „klassischen“ Extremismus noch, also die Rechtsextremisten und die Linksradikalen und auch die Islamisten?
Witthaut: Ja, sicher.
