Unter Strom: So funktioniert Netzsteuerung
Von Isabel Christian
Wenn der Wind an der Nordseeküste auffrischt, merkt man es in Lehrte zuerst. Genauer gesagt, in einem unscheinbaren Gebäude am Rande der Stadt bei Hannover. Die vier Männer, die es zuerst wissen, sitzen hinter einem Panoramafenster im ersten Stock. Für die ländliche Idylle draußen haben sie keinen Blick, ihre Aufmerksamkeit richtet sich allein auf die Zahlen und bunten Grafiken, die auf ihren mehr als 16 Bildschirmen leuchten. Die Männer sind Elektroingenieure beim Übertragungsnetzbetreiber Tennet und ihre Aufgabe ist die operative Netzführung. Übersetzt bedeutet das: Sie garantieren, dass in einem Gebiet von Niedersachsen bis nach Bayern immer die gleiche Menge Strom aus der Steckdose kommt und das Netz stabil bleibt. Der Wind von der Nordsee wird ihnen als lilafarbene Kurve in einem Koordinatensystem angezeigt. Die untere Achse markiert die vergangenen und kommenden Tage, die obere die Strommenge. Das ganze Diagramm zeigt den Ingenieuren, wie viel Strom Windkrafträder, Solaranlagen und andere Energie-Produzenten jeden Tag ins Stromnetz einspeisen und wie viel in den nächsten Stunden und Tagen zu erwarten ist. Gleichzeitig verbildlicht das Diagramm, warum die Ingenieure immer öfter in die Stromproduktion eingreifen müssen, um einen großflächigen Blackout zu verhindern.
Wenn man wissen will, wie ein modernes Stromnetz funktioniert, fragt man am besten Volker Weinreich. Weinreich ist Leiter des Tennet-Standorts in Lehrte und hält oft Vorträge über die Grundzüge der Stromversorgung. Um zu erklären, wie der Strom heutzutage in die Steckdose kommt, macht er einen Schlenker durch die Geschichte. Als im 19. Jahrhundert die ersten Glühbirnen in die Häuser kamen, standen noch überall Dampfmaschinen, um den Strom zu liefern. „Man hat aber schnell gemerkt, dass andere Möglichkeiten der Energiegewinnung viel flexibler, sauberer und ungefährlicher sind.“ Dann kamen die Kraftwerke. Jede größere Ortschaft hatte eigene Kraftwerke, die mit direkten Leitungen den Strom in die Häuser transportierte. „Dumm nur, wenn das Kraftwerk wegen eines einzelnen Teils ausfiel. Dann saßen die Menschen wieder im Dunkeln.“ Also wurden mehr Kraftwerke gebaut und in einem Verbundnetz zusammengeschlossen, um Schwankungen in der Stromproduktion auszugleichen und die Spannung zu halten. Denn in der Stromversorgung kann eine Überproduktion nicht einfach irgendwo gelagert werden. Es darf nur genau das produziert werden, was auch verbraucht wird – nicht mehr und nicht weniger. Andernfalls kann es einen Stromausfall geben. „Das Stromnetz ist wie ein Flugzeug, das eine bestimmte Höhe halten muss,“ erklärt Weinreich. Das Verbundnetz soll die sogenannte „n-1 Sicherheit“ gewährleisten. N steht für die Anzahl der einzelnen Elemente der Stromerzeugung, etwa eine Spule, ein Schalter, ein ganzes Kraftwerk. „Eins davon muss ausfallen dürfen, und die Stromversorgung bleibt trotzdem gesichert.“
Früher war das Stromnetz weitgehend autark
Das mitteleuropäische Verbundnetz ist mittlerweile so groß, dass es von Dänemark über Deutschland bis in die Türkei reicht. Es besteht aus mehreren Ebenen. Die Kraftwerke speisen ihren Strom, der regional nicht benötigt wird, in die Höchstspannungsnetze ein. Tennet ist einer von 34 europäischen Betreibern eines solchen Übertragungsnetzes. Mit einer Spannung von 380 und 220 Kilovolt fließt der Strom kilometerweit durch ihre Überlandleitungen. Wo er gebraucht wird, zapfen Transformatoren Strom ab, wandeln ihn in eine Spannung von 110 Kilovolt um und schicken ihn weiter durch Verteilnetze. Hieraus wiederum fließt der Strom in einer Spannung von 30 bis 40 Kilovolt in die lokalen Mittelspannungsnetze. Und diese verteilen ihn auf die nur wenige Hundert Meter langen Niederspannungsnetze, die den Strom mit 0,4 Kilovolt in die Steckdosen leiten. „Das System der Stromerzeugung funktionierte früher normalerweise weitgehend geplant, sozusagen an das Stromnetz angepasst. fast automatisch. Größere Netzeingriffe waren damals nur relativ selten nötig, vielleicht drei, vier Mal im Jahr“, sagt Weinreich. Doch Mitte der Neunziger kamen die Strombörse und die Erneuerbare-Energie-Offensive. Die Kraftwerke produzieren Strom nicht mehr zur reinen Bedarfsbefriedigung, sondern auch zur eigenen Gewinnmaximierung. Und durch die erneuerbaren Energien werden Kraftwerke nicht mehr dort gebaut, wo Bedarf besteht, sondern dort, wo die Stromproduktion am günstigsten ist. „Dadurch hat sich unser Aufgabenbereich als Netzbetreiber komplett verändert“, sagt Weinreich. „Wir sind jetzt für die Netzstabilität und die Versorgungssicherheit zuständig, zusätzlich müssen wir den Strom heute über weitere Distanzen dorthin transportieren, wo er gebraucht wird.“
Die Stromproduktion hat sich hauptsächlich in den Norden verlagert. Hier weht ein starker Wind, hier gibt es viele Flächen für Sonnenkollektoren. Doch der Strombedarf ist auch im Süden hoch. Also muss der Strom aus dem Norden in den Süden geleitet werden. Das bringt jedoch die bestehenden Netze an ihre Kapazitätsgrenzen. Die Stromtrasse Suedlink soll dieses Problem beheben. Wie bei einem Nonstop-Flug fließt hier der Strom gleichförmig durch ein Höchstspannungskabel unter der Erde von Wilster in Schleswig-Holstein nach Grafenrheinfeld in Bayern. Erst dort wird er wieder in die Hochspannungsnetze eingespeist. Doch der Suedlink ist nur der Anfang. Auf allen Ebenen werden die Netze ausgebaut werden müssen. „Je nach Wetterlage decken Windräder und andere erneuerbare Energieproduzenten in einigen Gebieten den gesamten Strombedarf und produzieren lokal noch mehr Strom, der weitergeleitet werden muss“, sagt Weinreich. Doch momentan scheitert der Abtransport meist an Engpässen in nachgelagerten Verteilnetzen oder am sogenannten vertikalen Engpass. Dieser kommt dadurch zustande, dass das Höchstspannungs-Übertragungsnetz aus den Verteilnetzen keinen Strom aufnehmen kann. „Um eine Überlastung der Netze zu verhindern, bleibt uns im Moment daher oftmals nur, einen Teil der Windräder vom Netz zu nehmen“, sagt Weinreich.
Dazu kommt der horizontale Engpass. Denn die ertragreichsten erneuerbaren Energien unterliegen starken Schwankungen. Weht kein Wind und scheint keine Sonne, müssen verlässlichere Energiequellen wie Kohle- oder Wasserkraftwerke die fehlende Stromleistung erbringen. Dadurch wird aber weniger in die Höchstspannungsnetze eingeleitet. Damit in Bayern trotzdem genug Strom aus der Steckdose kommt, müssen dort Kraftwerke angefahren werden, obwohl sie teurer Strom produzieren als die im Norden. Dafür weisen die Ingenieure der operativen Netzsteuerung eine bestimmte Zahl von Kraftwerksbetreibern an, ihre Produktion hochzufahren. Der Fachbegriff dafür lautet „Redispatch“, übersetzt „Neuversendung“. Griffen die Ingenieure der operativen Netzsteuerung vor der Energiewende ins Netz ein, dann ein oder zweimal im Jahr. Mittlerweile werden sie mehr als 1000 Mal im Jahr tätig, 2015 nahezu jeden Tag. Nur so lässt sich das Netz noch stabil halten.
Ein Spiel mit dem Feuer
Die Mehrkosten dafür trägt Tennet und legt sie wiederum auf die Stromkunden durch die Nutzungsentgelte um. „Im Jahr 2015 fielen allein im TenneT Netzgebiet 700 Millionen Euro für Redispatch- und andere Maßnahmen des Einspeisemanagements an“, sagt Weinreich. In ganz Deutschland waren es mehr als eine Milliarde Euro. Wenn es nach Tennet und der Politik geht, soll ab 2030 Schluss sein mit überflüssigen Kosten durch „Redispatching“. Bis dahin sollen die Netze ausgebaut sein, sodass sie Stromflüsse vertikal in beide Richtungen ermöglichen und über lange Strecken transportieren können. „Selbst wenn für das Projekt Suedlink zehn Milliarden Euro investiert werden müssen, lohnt sich dies volkswirtschaftlich immer noch“, sagt Weinreich. Dazu soll es verlässliche Technologien auf dem Markt geben, die eine Speicherung größerer Strommengen ermöglichen, um sie bei Bedarf wieder ins Netz einzuspeisen. „Den Netzausbau nicht voranzutreiben, wäre ein Spiel mit dem Feuer“, sagt Weinreich. Denn mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien steigt das Risiko für einen netzbedingten Stromausfall immer weiter. Dann könnte schon das Licht ausgehen, noch bevor die vier Männer vor ihren Bildschirmen in Lehrte auf die lilafarbene Linie reagieren können.