Tanzen gegen Fachkräftemangel: Warum immer mehr Firmen auf TikTok setzen
In der niedersächsischen Landespolitik gilt Uwe Dorendorf als unangefochtener TikTok-Star. Der CDU-Landtagsabgeordnete aus Lüchow-Dannenberg hat auf der Social-Media-Plattform, die vor allem für ihre Tanzvideos bekannt ist, mittlerweile weit mehr als 100.000 Follower. Er ist aber nicht der einzige Schlipsträger, der es bei den überwiegend jungen TikTok-Nutzern zu ungeahnter Bekanntheit geschafft hat: Die Krawatten von Rainer Grill sind inzwischen so beliebt, dass er damit kürzlich sogar ein Gewinnspiel veranstalten konnte. Grill ist allerdings nicht in der Politik aktiv, sondern Leiter der Öffentlichkeitsarbeit beim Ventilator-Hersteller Ziehl-Abegg aus der 15.000-Einwohner-Stadt Künzelsau in Baden-Württemberg.
„Wir sind ein mittelständisches Unternehmen und machen klassischen Maschinenbau – langweiliger geht’s nimmer“, sagte der frühere Zeitungsredakteur gestern beim Fachkräftekongress von Niedersachsen-Metall auf der Ideen-Expo in Hannover. Für die Suche nach Nachwuchskräften ergäben sich daraus in Verbindung mit der vom Schienenverkehr abgehängten Kleinstadt-Lage und der Nachbarschaft zur Würth-Gruppe, dem Weltmarktführer im Handel mit Montage- und Befestigungsmaterial, denkbar schlechte Voraussetzungen. Doch seitdem Ziehl-Abegg bei TikTok aktiv ist, hat sich die Lage gedreht. Durch eine clevere Social-Media-Strategie erreicht das Mittelstandsunternehmen inzwischen wieder die Fachkräfte von morgen – und das, ganz ohne dafür Werbung schalten zu müssen.
„TikTok muss man nicht mögen. Ich hänge ja auch am hiesigen Fußballplatz eine Bandenwerbung auf, nicht weil ich unbedingt Fußball mag, sondern weil da Menschen sind, die ich erreichen will“, sagte Grill. Der große Vorteil der umstrittenen Social-Media-Plattform bestehe darin, dass die Beiträge auch Nutzern ausgespielt werden, die einen bislang überhaupt nicht kennen. Das jüngste Weihnachtsvideo von Ziehl-Abegg, in dem Grill zusammen mit anderen Mitarbeitern tanzt, habe 4,4 Millionen Menschen erreicht und 43.000 Likes erhalten. „92 Prozent dieser Menschen haben noch nie ein Video von uns gesehen.“ Aber auch weniger reichweitenstarke Videos feiern messbare Erfolge. Ein kurzer Beitrag, der einen aktuellen Internet-Trend zur Zeichentrick-Sendung „Spongebob Schwammkopf“ aufgriff, verzeichnete zwar „nur“ 40.000 Zuschauer.
Allerdings klickten 1600 davon auf den dazugehörigen Link und 832 TikTok-Nutzer landeten schließlich bei den Stellenanzeigen des Unternehmens. „Eine Klickrate von über 52 Prozent, ohne einen Euro zu bezahlen? Das ist einfach nur geil“, jubelte der Medienprofi. Die wachsende Bekanntheit zeige sich aber nicht nur online. In seiner Bewerbung gebe zwar niemand an, dass er erstmals bei TikTok auf Ziehl-Abegg aufmerksam geworden ist, weil das vielen eher peinlich sei. Trotzdem erfährt Grill immer wieder auch im persönlichen Gespräch, dass die Nachwuchsstrategie aufgeht: „Wir gehen auf Hochschulmessen, um da die Ingenieure abzugreifen. Früher wollten die nicht zum Ventilatoren-Hersteller in die Provinz. Jetzt aber kommen die Absolventen und sagen: Hey, ich kenne euch. Ihr seid doch die Lustigen von TikTok, was habt ihr denn für Stellen?“
Der Aufwand für die fünf TikTok-Videos, die jede Woche bei Ziehl-Abegg entstehen, sei überschaubar. Die meiste Arbeit finde außerhalb der regulären Arbeitszeit statt. „Alle, die man in Videos sieht, stempeln aus und stempeln wieder ein. Dafür redet uns heute von der Geschäftsleitung niemand rein“, sagte Grill. Dass die TikTok-Strategie bislang aufgeht, führt der Experte für Öffentlichkeitsarbeit nicht zuletzt auch darauf zurück, dass sich niemand einmischt, der davon keine Ahnung hat. „Das Ganze funktioniert nur, wenn man den Leuten den Freiraum gibt und ihnen nicht hereinredet“, betonte er. Eine zuverlässige Gebrauchsanweisung für die Social-Media-Plattform gebe es ohnehin nicht. „Die Videos bei TikTok müssen keinen Sinn machen, sie müssen nur der Zielgruppe gefallen. Die junge Generation tickt anders, das muss ich auch nicht immer verstehen“, sagte Grill. Bei der Zusammenstellung des TikTok-Teams habe er deswegen auch extra auf Marketing- oder Vertriebsexperten verzichtet und stattdessen Mitarbeiter im Unternehmen gefragt, „die Bock auf TikTok haben“. Grill: „Die Leute wollen keine Werbevideos sehen, deswegen muss man sich was anderes einfallen lassen.“
Der TikTok-Erfolg von Ziehl-Abegg ist zwar außergewöhnlich. Dass digitale Kanäle für die Mitarbeitersuche erheblich an Bedeutung gewonnen haben, gilt allerdings für alle Arbeitgeber. „Spätestens durch Corona hat sich die Art und Weise, wie wir arbeiten, revolutioniert“, sagte Wissenschaftsautor Ranga Yogeshwar. Nicht nur der klassische „9-to-5-Job“ habe sich in vielen Branchen verändert, weil die Mitarbeiter nicht mehr vor Ort sind, sondern „remote“ arbeiten. „Wir sind im Schnelltempo in eine Welt sozialisiert worden, in der das Digitale eine immer wichtigere Rolle spielt“, so Yogeshwar. Das gelte auch für die Bewerbersuche und könne mit Zahlen belegt werden. „Die Bewertungen von Plattformen beim Social Recruiting nehmen immer mehr zu“, berichtete der Physiker und Wissenschaftsjournalist. Bald schon werde die Mehrzahl der Beschäftigten nicht mehr über die klassische Stellenanzeige in der Zeitung zu ihrem Job gefunden haben, sondern über Social-Media-Kanäle. Yogeshwar verwies in diesem Zusammenhang auf den Süßwarenhersteller „Hitschies“ aus Hürth bei Köln, dessen CEO Philip Hitschler-Becker nicht nur über den offiziellen Firmenaccount, sondern auch privat bei TikTok ein Millionenpublikum erreicht. „Der Chef hat 78.000 Follower und macht jeden Scheiß. Ich habe mit ihm gesprochen und er sagt: Ich habe keinen Fachkräftemangel“, berichtete Yogeshwar.
Aber wie müssen sich Arbeitgeber den jungen Leuten in den Sozialen Medien präsentieren? „Glauben Sie nicht, dass Sie nach außen hin mit Hochglanz etwas darstellen können, was Sie nicht selber leben“, warnte Yogeshwar die Unternehmer. In der digitalen Welt sei es für Bewerber sehr leicht, ins direkte Gespräch mit jungen Arbeitnehmern aus dem betreffenden Betrieb zu kommen. „Und die sind gnadenlos ehrlich“, wusste der Vater von zwei Teenager-Söhnen zu berichten. Den Führungskräften im Publikum empfahl Yogeshwar deswegen, direkt und ehrlich mit ihren Mitarbeitern umzugehen. „Gehen Sie durch die Hallen und reden Sie offen, Kommunikation ist alles“, sagte der Wissenschaftsjournalist. Wenn es den Chefs gelinge, junge Leute für ihren Betrieb zu begeistern, würden sie diese Begeisterung auch nach außen kommunizieren. Wer seine Mitarbeiter nach dem Prinzip „Nur unter Druck entstehen Diamanten“ führe, werde dagegen scheitern. „Diese veraltete Haltung ist Gift für junge Leute“, sagte Yogeshwar.
„Wir müssen uns in den sozialen Medien zeigen und wir müssen kreativ sein, wenn es darum geht, Fachkräfte zu gewinnen und vor allem auch zu halten“, sagte Arbeitgeber-Chef und Ideen-Expo-Aufsichtsratsvorsitzender Volker Schmidt. Gerade im Bereich Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik (MINT) sieht der Hauptgeschäftsführer von Niedersachsen-Metall die Unternehmen unter Zugzwang. „450.000 offene Stellen im MINT-Bereich können nicht besetzt werden“, sagte Schmidt. Der Fachkräftemangel sei das derzeit größte Problem der Metall- und Elektrobranche. Auch in anderen Branchen, die dringend Fachkräfte benötigen, sieht es laut Dirk Werner vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) düster aus. Der Leiter des IW-Clusters „Berufliche Qualifizierung und Fachkräfte“ sagte aber auch: „Wir haben keinen generellen Arbeitskräftemangel, wir haben ein Qualifikationsproblem.“ Seit zwei Jahren gebe es in der Bundesrepublik mehr offene Stellen als Arbeitslose, rein rechnerisch sei der Arbeitsmarkt also eigentlich leergefegt. „Immer mehr Jugendliche schließen erstmal die Schule ab und schauen dann, ob und wie es weitergeht. Wir haben 2,9 Millionen junge Menschen ohne Berufsausbildung“, berichtete Werner. Für ihn steht daher fest: „Werbung für Berufsausbildung muss Chefsache sein.“ Das verstärkte Werben um Fachkräfte habe bislang zwar nicht die Fachkräftelücke schließen können, zeige aber messbare Ergebnisse: „Die Ausbildungsplätze in Berufen, wo Fachkräftemangel herrscht, werden inzwischen deutlich häufiger besetzt als die Ausbildungsplätze in Berufen, wo es keinen Fachkräftemangel gibt.“
Dieser Artikel erschien am 13.06.2024 in der Ausgabe #108.
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